Mo., 07.05.18 | 04:40 Uhr
Das Erste
Tunesien: Mit Bach und Chopin gegen Extremismus
Unterwegs in der Wüste, mit einer ungewöhnlichen Mission: Schüler sollen für Bach oder Chopin begeistert werden, und das in den entlegensten Winkeln. "Tunesien 88" heißt das Projekt, gegründet vom amerikanischen Pianisten Kimball Gallagher, denn genau 88 Tasten hat ein Klavier: "Vordergründig geht es uns natürlich um Musik, aber dahinter steckt viel mehr: die Jugendlichen sollen ihr eigenes Potential entdecken."
Profi- und Hobbymusiker machen bei dieser Wüstentour mit – Farouk Shabou, ein bekannter tunesischer Cellist, freut sich vor allem auf das Publikum: "Für mich ist der schönste Moment bei diesen Konzerten, wenn ich das Lächeln in den Gesichtern der Jugendlichen sehe."
Die Musik kommt nach Tamaqzah
Am Rande der Sahara liegt der kleine Ort Tamaqzah, hier findet das nächste Konzert statt. Die 17-jährige Malek freut sich schon: Sie liebe Musik, erzählt sie, doch Tamaqzah habe da nicht so viel zu bieten. Im Hinterland Tunesiens ist die Bildungsmisere besonders groß. Malek Khlaifi findet die Abwechslung gut: "Ich finde das toll, dass heute so ein Konzert bei uns stattfindet, denn hier im Dorf gibt es so gut wie überhaupt nichts."
Und so machen sich Malek und ihre Freundinnen auf den Weg zur Schule. Dort wird gerade das Klavier ausgeladen – nicht unbedingt ein Anblick für empfindliche Künstlerseelen. Im großen Saal der Schule wird schon geprobt, mit dabei ein Deutscher: Ulrich Brunnhuber, Saxofonist, ist im richtigen Leben Vertreter der Europäischen Investitionsbank in Tunis. Die unterstützt das Projekt, das auf andere Kulturen neugierig machen will mit Volksliedern, Jazz und Klassik.
Wenn Kimball Gallagher spielt, ist ihm die volle Aufmerksamkeit sicher – viele Schüler sehen hier zum ersten Mal ein Klavier. Und wenn die tunesische Opernsängerin Ben Chikha aus "Romeo und Julia" vorträgt, dann ist die Überraschung komplett. Solche Klänge sind nicht selbstverständlich im Süden Tunesiens, der immer wieder von Islamisten bedroht wird; solch ein Konzert ist auch ein Statement: "Es war schön, dass wir so viele verschiedene Instrumente gesehen und auch etwas über berühmte Komponisten erfahren haben." "Mir hat es sehr gefallen", sagt Malek: "In den fünf Jahren, die ich diese Schule besuche, hat es so etwas noch nie gegeben."
Beim tunesischen Volkslied gehen alle begeistert mit – diese Musik verbindet. Für den Schuldirektor Hamza El Othmani ist das Konzert ein Glücksfall: "Sehen Sie, unsere Schule liegt weit weg in einem unsicheren Grenzgebiet. Uns fehlt es an allem, Lehrern, Materialien, Instrumenten. Wir können unseren Schülern so ein Angebot nicht machen."
Der Tourismus ist weg
Tamaqzah hat schon bessere Zeiten gesehen – früher kamen noch die Touristen, um von hier aus die Sahara zu erkunden. Doch jetzt bleiben die Besucher aus: die Lage in dieser Region gilt als zu gefährlich. Kaum einer will noch die spektakuläre Wüstenlandschaft sehen; darunter leiden nun die Einheimischen. Malek Khlaifi erklärt: "Viele leben vom Andenkenhandel. Aber ohne Touristen können sie sich und ihre Kinder nicht mehr ernähren. Wenn ich das hier sehe, macht mich das jedes Mal sehr traurig."
Diese Perspektivlosigkeit wird oft von Extremisten ausgenutzt. Das Musikprojekt will dem etwas entgegensetzen, es will auf Lust machen auf Fremdes, zeigen, wie man etwa spielerisch ein Cello dirigieren kann. Und es treten Schüler aus einem Nachbarort auf und tragen ein selbst geschriebenes Lied vor.
Bei "Tunesien 88" geht es um mehr als nur ein einmaliges Konzert, denn danach wird ein Musikclub gegründet von den Jugendlichen, die Interesse haben. Wer Vorsitzender werden will, muss sich mit einer Rede präsentieren. Malek ist natürlich dabei. Demokratie, ganz praktisch: die Jugendlichen sollen lernen, ihre Situation selbst zu verändern – zum Beispiel mit der Musik. Ulrich Brunnhuber, Europäische Investitionsbank in Tunesien: "Die Musik ist ein Werkzeug zur Inklusion, zur Einbindung in eine Gemeinschaft, im Klub, in der Stadt und im Land. Und es ist dann ein Mittel, sozusagen, um Transformation zu ermöglichen."
Mehr als 8000 Jugendliche hat "Tunesien 88" bereits erreicht, und auch in Tamaqzah wird sich etwas bewegen.
Malek ist zur Präsidentin des neuen Clubs gewählt worden: "Wir werden gemeinsam versuchen, Musikinstrumente zu besorgen, mehr Angebote für die Jugend hier zu schaffen. Wir wollen die Mentalität ändern, und ich bin mir sicher, dass uns das gelingt."
Eine Idee, ein paar Instrumente, und vor allem Eigeninitiative – es braucht nicht viel, um den oft tristen Alltag Tunesiens zu verändern.
Autor: Stefan Schaaf, ARD Madrid
Stand: 03.08.2019 05:27 Uhr
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