Mo., 16.04.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: Die Bühne der Frauen
Ümmiye Kocak geht an diesem Morgen einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen nach: Gemeinsam mit ihren Nachbarinnen hat sich die 60-Jährige zum Gözleme backen verabredet, eine Spezialität der anatolischen Küche: "Ich mag es einfach, Dinge selbst zu machen. Ich liebe dieses einfache Dorfleben! Wenn ich nichts anbaue, nichts ernte, dann fehlt mir etwas."
In Ümmiyes Heimatdorf Arslanköy, im Süden der Türkei, ist die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau klar vorgegeben: Der Mann als Oberhaupt und Versorger der Familie, die Frau als treuliebende Ehegattin, die die Kinder erzieht. Ümmiye Kocaks Leben verlief genauso, obwohl sie diese Art der Rollenverteilung schon als junges Mädchen in Frage stellte. Oft kamen Nachbarinnen zu ihr, klagten über Ehemänner, die sie schlecht behandelten oder sogar verprügelten. Von Frauenrechten hatte Ümmiye zwar gehört, doch sie im Dorf durchsetzen?
Als eines Tages eine Theatergruppe in ihrem Dorf Station machte, kam ihr ein Gedanke: "Ich wusste plötzlich genau, was ich wollte: Nämlich, die Stimme der Frauen endlich hörbar zu machen, indem ich selbst ein Theater gründe. Ich wollte einfach aufschreiben, was den Frauen im Dorf alles passiert und daraus ein Theaterstück machen. Wenn es dann die Ehemänner, Schwiegermütter, Schwiegerväter sehen, sollen sie ihre Lehren draus ziehen."
Frauentheater im ganzen Land
Mittlerweile treten die Frauen überall in der Türkei mit Ümmiyes selbstgeschrieben Stücken auf. Gerade proben sie den Text für ihr neues Stück. Vor einiger Zeit wurde auch die Werbeindustrie auf die ungewöhnliche Schauspielerin aus dem Dorf aufmerksam: Gemeinsam mit Fußballstar Cristiano Ronaldo spielte Ümmiye in einem Werbefilm mit; wenig später führte sie sogar bei ihrem ersten eigenen Film Regie. Ümmiyes Erfolgstory hat inzwischen auch bei den anfänglichen Skeptikern, den Männern im Dorf, Eindruck hinterlassen: "Wir haben uns ihre Stücke schon angeschaut, als sie noch ganz am Anfang standen. Es ist wirklich etwas, das man anerkennen muss. Es ist Kunst. Sie hat es sogar dazu gebracht, dass man in Europa darüber spricht."
Den Dorfalltag werden die Frauen nun für einige Tage hinter sich lassen. Ihr nächster Auftritt steht an: Es geht nach Hakkari, in den Südosten der Türkei: "Wisst ihr, warum ich so aufgeregt bin, Mädels? Weil ich noch nie in dieser Gegend war. Jeder sagt: Geht da nicht hin, das ist schlimm dort. Überall gäbe es Waffen und es sei gefährlich. Als ob das da Texas wäre! Ich denke, so schlimm wird’s schon nicht sein."
Auftritt in Hakkari
Hakkari liegt 1000 Kilometer weiter östlich. Eine Kleinstadt mit 70.000 Einwohnern, überwiegend kurdisch. Das Stadtbild ist geprägt von Militär und Sicherheitskräften. Denn rund um die Stadt toben Kämpfe mit der verbotenen PKK. Ümmiye und ihre Gruppe bekommen davon heute wenig mit. Im örtlichen Kulturverein bereiten sie sich auf den großen Auftritt vor. Auch die Männerrollen spielen sie selbst.
Nach Hakkari eingeladen hat sie Ümmühan Keskim, vom örtlichen Frauenverein: "Diese Region war bis vor kurzem noch wie eine verschlossene Box. Frauen trauten sich hier nicht viel zu, schon gar nicht im Kulturbereich. Auch weil man ihnen sagt: 'Lauf nicht Dingen hinterher, die nichts bringen.' Es gibt aber auch den Spruch 'Mit Kunst die Seele des Menschen berühren' und Ümmiye Koçak tut genau das. Sie ist ein Licht für alle Frauen."
Ehe der Auftritt beginnt, wird der Film gezeigt, bei dem Ümmiye Regie geführt hat. Er handelt von einer Frau und deren Tochter Elif, die nicht zur Schule gehen darf, am Ende aber ihr Ziel erreicht. Klingt nach verstaubter Vergangenheit, doch den jungen Frauen im Publikum scheint der Film nahe zu gehen, wie eine Schülerin später sagt: "Ich fühlte mich gerade selbst in der Rolle der Elif. Jede Szene des Films hat mich emotional sehr bewegt, weil mir die Geschichte so ähnelt. Momentan bereite ich mich auf die Aufnahmeprüfungen der Uni vor und nach diesem Film werde ich mir dafür noch viel mehr Mühe geben."
Die Stunde des Auftritts ist endlich da: Das Stück handelt von einer Familie, die vom Dorf nach Istanbul zieht und daran zu zerbrechen droht. Menschen zum Nachdenken bringen, das sei ihr wichtigstes Anliegen, erzählt sie uns Ümmiye in der Pause: "Das einzige, was ich will, ist, dass Frauen klar und deutlich ihre Meinung sagen, sich nicht verstecken und dass sie jungen Leuten damit ein gutes Vorbild sind."
Vielen Frauen im Land ist Ümmiye Kocak ein Vorbild, vielleicht gerade weil sie eine einfache Bäuerin vom Dorf ist und trotzdem auf den Brettern steht, die die Welt bedeuten können.
Autorin: Katharina Willinger, ARD Istanbul
Stand: 02.08.2019 22:42 Uhr
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