Interview mit Autor Sebastian Orlac und Regisseur Ben von Grafenstein
Sie waren noch ein Kind zu Helmut Schmidts Regierungszeit. Er ist Ihnen also mittelbar aus Geschichtsbüchern bekannt. Welches Bild hatten Sie vor der Arbeit an dem Film von ihm? Und hat sich Ihr Bild von Helmut Schmidt durch die persönliche Begegnung und die Realisierung des Films geändert?
Sebastian Orlac: Vielen Dank, so jung bin ich nun auch wieder nicht. Tatsächlich habe ich die Regierungszeit Helmut Schmidts als Jugendlicher durchaus mitbekommen. Ich weiß noch, wie ich 1982, als Zwölfjähriger, die Bundestagsdebatte um das Misstrauensvotum gegen ihn vor dem Fernseher verfolgt habe. Als ich bei meiner Recherche das Material noch einmal gesehen habe, konnte ich wieder verstehen, warum mich das als Junge so fasziniert hat. Die Abwahl Schmidts hat damals die Republik gespalten. Bei der großen Beliebtheit, die er heute in der breiten Bevölkerung genießt, kann man sich das kaum noch vorstellen. Es gibt viele Bilder zu Helmut Schmidt als Macher, Lotse, als "Schmidt Schnauze". In der Beschäftigung für den Film habe ich noch einen ganz anderen Menschen kennen gelernt, einen feinfühligen, zurückhaltenden, gelassenen.
Ben von Grafenstein: Schmidt war für mich, bevor ich mit dem Film begonnen habe, besonders als Kanzler des deutschen Herbstes und als der elder statesman bekannt. Er war und ist für mich ein kraftvoller, belesener und weiser Mensch. Ein Mann, der sich nicht wie viele andere Politiker im Zeitgeist, in Relativierungen und in absichernde Aussagen flüchtet. Ein Staatsmann, der für das einsteht, was er sagt, auch wenn es anderen nicht passt. Dieses Bild hat sich auch nach den Dreharbeiten und der sehr intensiven Auseinandersetzung mit dem Altkanzler nicht geändert. In meinem Kopf ist mein Bild von ihm jedoch weit vielschichtiger geworden. Durch die Arbeit an dem Film habe ich ihn auch als politischen Machtmenschen kennengelernt, als einen pflichtbewussten Offizier der Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs und als einen Hanseaten, für den persönliche Pflichterfüllung wichtiger ist als alles andere.
Wie haben Sie sich Helmut Schmidt genähert? Was waren Ihre Fragen an die Person Helmut Schmidt?
Sebastian Orlac: Uns hat zusammen mit Katharina Trebitsch zu Beginn des Projekts interessiert, woher kommt eigentlich Schmidts große Beliebtheit? Weil er in der Öffentlichkeit raucht? Weil er ein ansehnliches Alter erreicht hat? Oder weil sich viele Bürger jemanden wünschen, der klare Entscheidungen für sie fällt? In der genaueren Beschäftigung bin ich dann auf Wendepunkte in Helmut Schmidts Leben gestoßen, bei denen er stets existenzielle Entscheidungen treffen musste, die nicht nur politische, sondern auch private Konsequenzen hatten. Dass hat uns dann interessiert. Wie hat sich Schmidt in diesen Lebensfragen entschieden und wie sieht er sie heute?
Welche Quellen haben Sie für Ihre Stoffsammlung hauptsächlich herangezogen? Wie sind Sie mit der großen Fülle an Ereignissen und deren Dokumentation umgegangen?
Sebastian Orlac: Angesichts der Fülle des Materials, war ich am Anfang fast erschlagen. Zusammen mit meinem Rechercheur Florian Scheibe, habe ich dann so gut wie alles gelesen, was ich an biographischer Literatur finden konnte. Zunächst dachten wir, okay, es ist bereits vieles gesagt. Doch dann durften wir in Schmidts Privatarchiv und haben einen wahren Schatz entdeckt. Rund 20 Regalmeter privater Fotoalben, von Loki und Helmut Schmidt selbst eingeklebt und handschriftlich kommentiert, von 1918 bis in die Gegenwart. Diese Bilder erzählen mehr als jede Biographie.
Das Dokudrama bietet die Möglichkeit der Perspektivierung. Warum ist diese Form Ihrer Meinung nach im Fall von Helmut Schmidt besonders geeignet?
Sebastian Orlac: Wenn man so will, ist dieser Film aus der Perspektive des Zuschauers erzählt. Er blickt über Helmut Schmidts Schulter in die Alben. Und er kann sich an den Wendepunkten dieses ereignisreichen Lebens fragen: Wie hätte ich entschieden? Als Autor schreibe ich sonst vor allem fiktionale Stoffe. In diesem Fall war das Doku-Drama die ideale Form. Es wäre mir unangenehm gewesen, über eine lebende Person zu schreiben, ohne sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Dass Helmut Schmidt noch einmal zu zwei langen Interviews bereit war, ist ein Glücksfall für diesen Film.
Ben von Grafenstein: Speziell bei Helmut Schmidt geben die Spielfilmszenen die Möglichkeit, seine oft nüchterne, sachliche Art über Sachen zu reden, emotional besser verstehen zu können. Dabei sind die Spielfilmsequenzen in "Helmut Schmidt – Lebensfragen" nicht als nachgespielte Geschichtserklärung angelegt. Eher sollen sie ein Angebot an den Zuschauer sein, Schmidts Gefühlswelt besser lesen zu können. Die Spielfilmebene befruchtet die Interviewebene und umgekehrt. Zusammen ergibt sich ein tieferes Bild von der Person Schmidt.
Haben Sie Helmut Schmidt in Ihrer Planung im Vorfeld mit einbezogen?
Sebastian Orlac: Abgesehen von den Interviews, nein. Es gab von Helmut Schmidt ein großes Vertrauen und Offenheit diesem Projekt gegenüber. Wir durften uns im Archiv frei bewegen. Ansonsten habe ich es im Gegenteil sogar bewusst vermieden, während des Schreibens Helmut Schmidt persönlich kennen zu lernen. Ich wollte mich ganz auf das Material stützen. Und um eine Figur zu entwerfen, braucht es manchmal Distanz. Auch wenn sie ein lebendes Vorbild hat.
Ben von Grafenstein: Ja. Aber einiges konnte dann doch nicht realisiert werden. Beispielsweise hatte ich die Idee, in einem Kino zu drehen, um Herrn Schmidt Fotos aus seinem Leben über die Leinwand einzuspielen. Dabei hätte ich gerne seine unmittelbare Reaktion auf die Bilder abgelichtet. Irgendwann war klar, dass Schmidts gesundheitlicher Zustand solche cineastischen Experimente nicht zulassen würde. Auch verwehrte er sich dagegen, ihn beim Klavierspielen zu filmen. Er hatte Angst, sich vor der Kamera zu verspielen. Die Entscheidung, in seinem privaten Umfeld am Brahmsee ein Interview mit seinen alten Fotoalben zu drehen, war im Nachhinein die Richtige. In Absprache mit Giovanni di Lorenzo habe ich darauf gesetzt, das Interview so persönlich wie möglich zu gestalten. Ich habe mit meinem Kameramann Ralf Noack die Umbaupausen genutzt, um Schmidt unbemerkt beim Stöbern in seinen Bildern zu filmen. Dabei sind, wie ich finde, sehr private Momente mit ihm entstanden. Wir konnten ihn auch davon überzeugen, gemeinsam mit seiner Partnerin Ruth Loah ein Stück spazieren zu gehen. Und es gab Spielfilmszenen, die ohne seine Erinnerungen nicht hätten so entstehen können: die Sequenz in der Zeit des Nato-Doppelbeschlusses zum Beispiel.
Kann man in diesem besonderen Fall die Person Helmut Schmidts vom Politiker Helmut Schmidt trennen?
Sebastian Orlac: Was man gerne vergisst: Helmut Schmidt ist nun schon länger aus der aktiven Politik ausgeschieden, als er je im Amt war. Dennoch ist sein Leben immer ein politisch geprägtes gewesen, sei es als Soldat und auch jetzt noch als Herausgeber und Autor. Jenseits der Politik gibt es aber noch eine ganz andere, eine zartere Lebenslinie. Die haben wir versucht, im Film nachzuzeichnen.
Wie erklären Sie sich, dass Helmut Schmidt besonders in den letzten Jahren zu einer politischen Instanz geworden ist? Seiner öffentlich geäußerten Meinung kommt über alle Parteien hinweg ein gehöriges Maß an Beachtung zu.
Ben von Grafenstein: Schmidt ist eine Medienfigur, er hat etwas zu sagen, ist belesen, kann über eine politische und geschichtliche Erfahrung blicken wie sonst kaum ein anderer. Er hat etwas, was viele Menschen beeindruckend finden: Helmut Schmidt sagt seine Meinung frei und geradeheraus. Dabei scheint ihm egal zu sein, ob es Anderen gefällt oder nicht. Man darf dabei allerdings nicht außer Acht lassen: Helmut Schmidt ist fernab von der Tagespolitik. Er hat nicht mehr so viel zu verlieren wie manch andere Politiker. Dauerqualmen unter Rauchmeldern rundet sein medienwirksames Image ab.
Sie haben im Privathaus von Helmut Schmidt gedreht. Wie nah konnten Sie ihm in dieser sehr persönlichen Atmosphäre kommen?
Ben von Grafenstein: Für die wenige Zeit, die ich für das Interview und das dazugehörige Vorgespräch hatte, bin ich ihm relativ nahe gekommen. Wir haben gemeinsam Zigaretten geraucht und mit Ruth Loah geplaudert. Dabei ging es weniger um Politik, Schach oder Film. Es wurde darüber diskutiert, warum Rehe, vor allem in Schmidts Brahmseegarten, so auf frische Tulpenblüten stehen. Ich durfte Herrn Schmidt als sehr zufriedenen, fitten, unaufgeregten alten Herrn erleben.
Haben Sie alle Lebensabschnitte gleichwertig behandelt oder den Fokus auf bestimmte Abschnitte gelegt?
Ben von Grafenstein: Da es ein persönlicher Film über Schmidt werden sollte, haben wir (Produzentin, Autor, Redaktion und Regie) Punkte in seinem Leben herausgesucht, die ihn als Menschen am besten beschreiben. Konfliktsituationen, anhand derer man ihn emotional am besten zu greifen bekommt. Situationen, Fehler und Sollbruchstellen in seinem Leben. Dabei war weniger das geschichtliche Gewicht der Begebenheit entscheidend. Wir haben uns Szenen herausgesucht, die ihn prägten, Szenen, die für ihn als Mensch wichtig waren.
Welchen Eindruck soll der Film bei den Zuschauern hinterlassen?
Sebastian Orlac: Ich denke, so kurz vor Weihnachten, ist "Lebensfragen" durchaus ein Film für die ganze Familie. Es ist spannend, ganz gleich in welchem Alter, sich dieses Jahrhundertleben anzusehen, zu erleben, wie jemand seinen Werdegang mit großer Pflichterfüllung gemeistert hat und es ihm dennoch im Alter gelingt, zu Leichtigkeit und Gelassenheit zu finden.
Ben von Grafenstein: Erst einmal wünsche ich mir, dass der Film von sehr vielen Menschen unterschiedlicher Altersgruppen und sozialer Schichten geschaut, angenommen und verstanden wird. Diese wünschenswert große Zuschauergemeinde sollte am besten über den Film sagen, dass sie etwas gesehen haben, was sie über Helmut Schmidt noch nicht kannten – Geschichte plastisch erzählt, Schmidt kritisch beleuchtet.