Mo., 30.10.17 | 04:15 Uhr
Das Erste
Menschen am Abgrund
Denis Scheck trifft Juli Zeh
Deutschland 2025. Die Zukunft hat begonnen: Frexit, Negativzins, bedingungsloses Grundeinkommen, Menschen, die ihr Wahlrecht gegen eine Waschmaschine eingetauscht und "Leere Herzen" haben. Juli Zeh seziert eine Generation, die ihre politischen Ambitionen aufgegeben und so einem demokratiefeindlichen System zur Macht verholfen hat.
"Full Hands, Empty Hearts, It's a Suicide World" – das ist der Soundtrack des Romans. Im Mittelpunkt agiert die kämpferische Britta Söldner (!), die eine Heilpraxis für Selbstoptimierung betreibt: "Life-Coaching, Self-Managing, Ego-Polishing". Hier versammeln sich lebensmüde Menschen, die ihren Suizid in den Dienst einer "guten Sache" stellen wollen, denn sie selbst haben nichts, für das es sich ihrer Meinung nach zu leben lohnt. Britta vermittelt diese, vom allgemeinen Zustand der Welt Enttäuschten als Selbstmordattentäter an große gemeinnützige Organisationen. Hier nämlich wird noch geglaubt, dass es sich lohnt, für Ideale und eine bessere Gesellschaft zu kämpfen.
Britta gerät dabei selbst ins Fadenkreuz einer politischen Interessensgruppe, die Brittas Organisation für ihre eigenen Interessen nutzen will. Es ist der Beginn eines Kampfes auf Leben und Tod.
Erbarmungslos rechnet Juli Zeh ab mit einem Land, dessen Bürger sich ermattet-satt und desillusioniert von der aktiven Teilnahme an demokratischen Prozessen verabschiedet haben. "Ruhe sanft, öffentlicher Diskurs, du warst der größte Gastgeber aller Zeiten (...) konntest Kampf sein und Spiel, aber auch Heimat und Ziel. Wir bleiben zurück, ungetröstet, vereinzelt, verstört." "Leere Herzen" von Juli Zeh ist Anklage und Weckruf, ein fesselnder Polit-Thriller, der den Leser mit sich selbst konfrontiert!
Juli Zeh: "Leere Herzen". Erschienen im Luchterhand Verlag
Der Mensch im Angesicht des Todes
Ein Leben in permanenter Bedrohung, ohne Sicherheit oder Hoffnung. Anuk Arudpragasam schreibt über das, was den Menschen zum Menschen macht und was ihn trägt im Angesicht des nahen Todes.
Schauplatz dieser "Geschichte einer kurzen Ehe" ist ein Evakuierungscamp tamilischer Rebellen im Bürgerkrieg Sri Lankas. Nächtliche Bombardements, Leichen, verkrüppelte Menschen und brennende Hütten markieren den alltäglichen Rhythmus einer apokalyptischen Welt. Der Leser erlebt sie durch die Augen eines jungen Mannes namens Dinesh, der in diesem Inferno seinen baldigen Tod erwartet. Krieg, Flucht, Verlust und Gewalt haben seine Gefühlswelt, seine Persönlichkeit und Individualität reduziert auf wenige mechanische Handlungen, die ihm der Körper abverlangt und das nackte Überleben sichern. Der Körper ist das Letzte und Einzige, was Dinesh bleibt in seiner auf das nackte Dasein reduzierten Existenz, dessen verbleibende Dauer nicht von ihm beeinflusst werden kann. "Glück und Trauer sind etwas für Leute, die Kontrolle haben über das was ihnen passiert". Anuk Arudpragasam erzählt von den kleinen Dingen und Verrichtungen des Lebens – und von einer Wahrnehmung der Wirklichkeit, die umso schärfer wird, je schneller sie sich aufzulösen droht.
Und doch hat der Autor auch eine gute Botschaft für uns: Alles ist immer und überall möglich! Die "Geschichte einer kurzen Ehe" zeigt, wie durch die Nähe zu einem anderen Menschen bereits verloren geglaubte Gefühle zu neuem Leben erwachen können: Sich an die eigene Geschichte erinnern, vertrauen, lieben, hoffen.
Anuk Arudpragasam: "Die Geschichte einer kurzen Ehe". Erschienen im Hanser Berlin Verlag
Außerdem in "druckfrisch" ...
... eine Hommage an den frisch gebackenen Literatur-Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro, den "druckfrisch" 2009 in London getroffen hat.
Denis Scheck empfiehlt Francis Spufford: "Neu York"
Neu York im Jahr 1746: Ein geheimnisvoller junger Mann mit einem Sack voll Geld kommt in die Stadt, die damals gerade mal 7000 Einwohner zählte. Kein Wunder, dass er Aufsehen erregt und die Gerüchteküche der Metropole anheizt: Was will dieser Mann und wer steht hinter ihm? Denis Scheck: "Francis Spufford legt Schicht um Schicht den Gründungsmythos jenes Landes bloß, das sich erst dreißig Jahre später von seinem Mutterland lossagen wird. Im Zentrum: die Rassefragen und das Verbrechen der Sklaverei, dessen dunkle Schatten noch über den Vereinigten Staaten von heute liegen. Und wie nebenbei erzählt der Wortmagier Spufford in der reichsten Sprache seit Henry Fielding und Thomas Pynchon eine hinreißend traurige, hinreißend schöne Liebesgeschichte."
Francis Spufford: "Neu York". Erschienen im Rowohlt Verlag
Und wie immer:
Der unbestechlich schonungslose Blick Denis Schecks auf die Spiegel-Bestseller-Liste, diesmal "Belletristik".
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