So., 15.12.24 | 23:35 Uhr
Das Erste
Denis Scheck kommentiert die Top Ten Belletristik
10) Natalie Mae: "The Kinder Poison"
Eine amerikanische Retorten-Romantasy über eine am Imposter-Syndrom laborierende Tierflüsterin, die in einer Welt voll Zauberei nur niedrige magische Fähigkeiten zu besitzen scheint. "Das war ein schrecklicher erster Eindruck", sagt der Prinz am Ende des Romans zu ihr. "Du bist entführt worden, du bist erstochen worden, wir haben noch nichts zusammen gemacht, ohne mit Schmutz oder Blut bedeckt zu sein … Vielleicht gibst du mir eine zweite Chance?" Ich jedenfalls musste keine Sekunde nachdenken.
9) Charlotte Link: "Dunkles Wasser"
Auf Seite 337 schreibt Charlotte Link: "Sie wurde vergewaltigt … Danach hat man ihr mit einem Stein das Gesicht zertrümmert. Zuletzt den Kehlkopf eingeschlagen. Sie ist an ihrem eigenen Blut erstickt." Dasselbe möchte ich von diesem uninspirierten Serienkrimi behaupten.
8) Volker Kutscher: "Rath"
Was für ein grandioses Finale einer herausragenden Reihe. Der düstere Suspense von Kutchers Krimis rührt aus der Schilderung eines Deutschlands, das vom Faschismus immer stärker drangsaliert wird, und findet hier in der Schilderung der Reichspogromnacht ihren Höhepunkt findet. Bravo!
7) Alina Bronsky: "Pi mal Daumen"
Ein geistreicher und witziger Unterhaltungsroman über höhere Mathematik und eine Notgemeinschaft im Studium, die aus einem autistischen 16-jährigen Adeligen und einer 53-jährigen Oma aus dem Prekariat besteht. Skurril, amüsant, ein Buch, das in Erinnerung bleibt - diese Gleichung geht auf.
6) Martina Hefter: "Hey guten Morgen, wie geht es Dir?"
Ein nigerianischer Lovescammer und eine Leipziger Performancekünstlerin finden sich als betrogene Betrüger zu einem Dialog auf Augenhöhe. Die Gewinnerin des diesjährigen Deutschen Buchpreises spielt in diesem Roman eine erkenntnisträchtige Partie "Check your privileges!"
5) Lucinda Riley: Das Mädchen aus Yorkshire
In seinem Vorwort nennt der Sohn der 2021 verstorbenen Lucinda Riley den grotesken Schund, den seine Mutter am Fließband produzierte, "Frauenliteratur". Frauenliteratur ist für mich zum Beispiel die Literatur von Simone de Beauvoir, Siri Hustvedt, Margaret Atwood und Annie Ernaux, und diese Literatur wendet sich immer an Menschen aller Geschlechter. Die Literatur von Lucinda Riley hingegen wendet sich an Menschen ohne Gehirn und Geschmack.
4) Carsten Henn: "Der Buchspazierer"
Eine Kinoverfilmung sorgt dafür, dass dieser für mich unerträgliche Biblio-Kitsch wieder auf der Bestsellerliste auftaucht. Die vermeintlichen Lebensweisheiten, die ein über 70-jähriger Buchhändler im Gespräch mit einer Neunjährigen zum Besten gibt, lassen Glückskeks-Sprüche wie "Anna Karenina" wirken.
3) Marah Woolf: "House of Destiny"
Noch eine Romantasy, diesmal bedient sich die unter dem Pseudonym Marah Woolf schreibende Magdeburgerin Ina Körner ziemlich dreist an der "Tribute von Panem"-Reihe und bringt es fertig, das mit Elementen von "Immenhof" und "Germany’s Next Topmodel“ zu mischen. Ergebnis: Pegasoi, die arg an Islandpferde erinnern, und ein in seiner Phantasielosigkeit deprimierender Backlash für den Feminismus.
2) Sebastian Fitzek: "Das Kalendermädchen"
Im neuen Fitzek begegnen wir unter anderem einer christlich fundamentalistischen Internatsdirektorin und deren perversem Sohn, der sagt: "Es macht mir einfach mehr Spaß, einen Menschen zu töten, wenn ich weiß, dass er mich versteht und meine Beweggründe kennt." Die Protagonistin leidet unter "Santaclausophobie", also einer Weihnachtsmann-Allergie, die ihr ähnliche Symptome verursacht wie mir ein neuer Roman von Sebastian Fitzek, Zitat: "Ganzkörperkrampf, Schweißausbruch, allumfassender Ekel."
1) Joachim Meyerhoff: "Man kann auch in die Höhe fallen"
Joachim Meyerhoffs Literatur ist die deutsche Antwort auf die Autofiktion Karl Ove Knausgards – nur ist Meyerhoff eben nicht nervig und narzisstisch, sondern unverschämt lustig und geistreich. Sein neues Buch, das seinen Titel von Friedrich Hölderlin entlehnt, enthält zum Brüllen komische Theateranekdoten und eine hinreißende Liebeserklärung an seine Mutter. Selten durfte in der deutschen Gegenwartsliteratur auf so hohem Niveau gelacht werden.
Stand: 15.12.2024 18:00 Uhr
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