So., 10.11.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Keine Bilder zum Träumen
Das Archiv der Journalist*innen Deffarge & Troeller
Immer subjektiv, meist zugespitzt und oft kontrovers berichteten Marie-Claude Deffarge und Gordian Troeller aus aller Welt. Die Französin und der Luxemburger stehen für einen politischen und kritischen Journalismus ab den 1950er Jahren. Mit seinen Berichten über Revolutionen, Kulturkämpfe und Menschenrechte erreichte das Paar ein breites Publikum. Dabei hält die Relevanz ihrer Berichterstattung bis heute an, ob politische Konflikte in Iran, Palästina, Somalia, Eritrea oder Kapitalismuskritik und Feminismus: Sie spürten die Ursachen jener Krisen auf, die nach wie vor das Weltgeschehen beeinflussen. Die Retrospektive "Deffarge & Troeller – Keine Bilder zum Träumen" im Essener Museum Folkwang gibt Einblick in das Foto- und Filmarchiv der beiden Journalist*innen.
Mit großer Reichweite aus aller Welt
Ab den 1960er Jahren erreichten sie ein Millionenpublikum. Für über 100 "Stern"-Reportagen und rund 80 Dokumentarfilme waren sie weltweit unterwegs. Journalistische Haudegen, allerdings ohne journalistische Ausbildung. Marie-Claude Deffarge jobbte nach dem Zweiten Weltkrieg als Flamenco-Tänzerin in Amsterdam, Gordian Troeller sah sie auf der Bühne und schon bald gingen die beiden auf Abenteuerreisen. Immer die Kamera im Gepäck, zunächst Fotos, später Film. Das Filmmaterial lagert inzwischen im Luxemburger Archiv CNA. Um den fotografischen Nachlass kümmert sich Petra Steinhardt im Museum Folkwang in Essen, die begeistert berichtet: "Das war ganz spannend, als dann wirklich die Negative, die Kontakte und Abzüge in die Sammlung kamen. Was das für ein thematischer Umfang und Bildreichtum ist, der von den frühen 50ern bis in die 90er reicht. Insgesamt sind es, wenn man die Negative nimmt, 110.000. Davon ist nicht alles qualitativ gut, aber vieles."
Verständnis für andere Kulturen
Für Petra Steinhardt ist das Archiv ein lebendiger Geschichtsunterricht, der erstaunlich aktuell ist: "Man merkt es an verschiedenen Konflikten, die jetzt gerade aufploppen, dass genau diese Themen, die vor 40 Jahren relevant waren, dass sich Diskussionsmuster in der Auseinandersetzung überhaupt nicht verschoben haben. Man hat so das Gefühl, wir haben gar nichts dazugelernt." Subjektiv, oft kontrovers berichteten Deffarge und Troeller über Revolutionen, Kulturkämpfe, Menschenrechte aus 55 Ländern dieser Welt. "Keine Bilder zum Träumen" heißt die Ausstellung, die im Museum Folkwang in Essen gerade vorbereitet wird und die diese Bilder neu ins Bewusstsein rufen will. Es geht um Perspektivwechsel, um ein größeres Verständnis für andere Kulturen.
Mann mit der Kamera
In einem Portrait von 1995 erzählt der damals 78-jährige Gordian Troeller über seine Arbeit: "Die nennen mich den Mann mit den großen Augen in den Gegenden, weil ich immer die Kamera in der Hand habe und wenn irgendwas passiert, losdrehe. Ich weiß immer noch nicht, wie das Ding läuft. Ich bete nur, dass es nicht kaputt geht unterwegs, das wäre schlimm. Aber sonst: scharf einstellen ist ja nicht so schwer und auf den Knopf drücken auch nicht. Das zoomen ist schwer, weil ich es manchmal mit der Hand machen muss, und dann ist es nicht ganz regelmäßig, so what?"
Die Lage im Iran
Schon seit den frühen 50er Jahren zog es Deffarge und Troeller immer wieder nach Persien. Sie erlebten zu Zeiten des Shahs eine erstaunlich offene Gesellschaft, in der Tradition und westliche Werte koexistierten. Bilder, die heute wie ein Zukunftstraum vieler Frauen im Iran wirken. 1979 war Schluss damit. Deffarge und Troeller waren stets auf der Seite von Befreiungskämpfen. Sie befürworteten zunächst die islamische Revolution. Der Tschador: ein positives Zeichen für die Besinnung auf die eigene Kultur. Eine fatale Fehleinschätzung. Die Iranerin Raika Khorshidian und ihr Mann Heidar Zahedi haben für die Essener Ausstellung das umfangreiche Iran-Material gesichtet und sich filmisch damit auseinandergesetzt. "Als wir die Filme angeschaut haben, war das ein ziemlicher Schock für uns", erzählt Raika Khorshidian, "Deffarges und Troellers Interpretation der Dinge war komplett anders als wir uns das vorgestellt haben. Wie kann denn der Hidschab, das Kopftuch, ein Zeichen für Freiheit sein? Wir sehen doch bis heute, wie das islamische Regime versucht, den Körper zu kontrollieren. Wer Körper kontrolliert, kontrolliert auch Gedanken. In diesen Filmen können wir die Fehler der vorigen Generation sehen und die betreffen uns bis heute.“ Bei aller Kritik an ihrer Arbeit: Deffarge und Troeller berichteten mit Haltung. Es ging ihnen stets darum, die Vielfalt der Welt zu bewahren. Troeller erinnert sich an eine Prophezeiung der Navajos: "Wenn die gesamte Menschheit die gleiche Sprache spricht, in Klammern: wenn es keine Alternative mehr zum Denken des weißen Mannes gibt, ist die Welt am Ende. Und davon bin ich überzeugt."
Autorin: Katja Lüber
Stand: 11.11.2024 01:12 Uhr
Kommentare