So., 26.01.25 | 23:05 Uhr
Das Erste
Psychogramm aus der Hölle
Jonathan Millets Kinothriller "Die Schattenjäger"
Sie durchkämmen Europa auf der Suche nach flüchtigen Schergen des Assad-Regimes: Mitglieder der Yaqaza-Zellen, ein geheimes Netzwerk syrischer Zivilisten, die im Exil Kriegsverbrechen aufspüren. Hamid ist einer von ihnen. In Straßburg meint er seinen ehemaligen Folterer aus dem berüchtigten Sednaya-Gefängnis wiederzuerkennen. Kann er sich auf seine Wahrnehmung verlassen? Bei Hamid beginnen die Grenzen von Wahrheit und Obsession, Vergangenheit und Gegenwart, Gerechtigkeit und Selbstjustiz zu verschwimmen. Der Thriller "Die Schattenjäger basiert auf wahren Begebenheiten. ttt hat mit Regisseur Jonathan Millet und seiner syrischen Darstellerin Hala Rajab gesprochen, deren Vater ebenfalls an den Folgen der Folter in Sednaya starb.
Recherche bei syrischen Kriegsflüchtlingen
Viele haben nicht überlebt. Das syrische Foltergefängnis Sednaya ist berüchtigt. Auch dafür, Häftlinge, aus denen alles heraus geprügelt ist, einfach in der Wüste abzuladen. So wie Hamid, der Protagonist in Jonathan Millets virtuos erzähltem Psychothriller "Die Schattenjäger". Er wird auch das überleben. Und seine Traumata mit nach Europa nehmen, wo er seine Peiniger aufspüren wird. Denn Hamid ist einer der sogenannten „Schattenjäger“. Der französische Dokumentarfilmer Jonathan Millet erzählt davon in seinem gleichnamigen Spielfilm-Debüt. Einem fiktiven Thriller, nach realen Begebenheiten: "Ich sprach zwei Jahre mit syrischen Kriegsflüchtlingen über die Folterungen", erzählt Millet von seinen Recherchen, "und immer wieder hörte ich dabei von diesen geheimen Zellen. Normalen syrischen Bürgern, die in Europa auf der Jagd nach Kriegsverbrechern Spionage betreiben!"
Geheime Netzwerke gegen Kriegsverbrecher
Die Mitglieder dieser geheimen Netzwerke verabreden sich auf Gaming-Plattformen, um unerkannt chatten zu können und sich über ihre Entdeckungen und ihr Vorgehen gegen mögliche Kriegsverbrecher auszutauschen. Hamid ist überzeugt, dass sein Folterer Harfaz in Straßburg Chemie studiert. Schon in Sednaya hatten sie ihn immer nur den "Chemiker" genannt. Wegen seiner Säure-Experimente. Hamid hat ihn nie sehen können. Aber: spüren, hören, und riechen. Jonathan Millet erklärt: "Alle diese Menschen haben keine Ahnung, wie diejenigen aussehen, nach denen sie suchen. Die Jahre in Syrien im Gefängnis haben sie in völliger Dunkelheit verbracht. Aber das hat ihre Sinne geschärft, um zu hören, auf Geräusche zu reagieren und zu riechen."
Keine Chance für die Liebe
Wie besessen verfolgt Hamid seinen mutmaßlichen Folterer. Und wir diesen mit ihm. Ohne je sicher sein zu können, ob uns seine traumatisierte Seele nicht in die Irre führt. Die Zeugenaussagen, von denen sich Hamid Hinweise auf die Identität von Harfaz verspricht, führen direkt in die Folterzellen von Sednaya. Flashbacks rauben Hamid beinahe den Verstand. Und er trauert um Frau und Tochter, die während seiner Haft ermordet wurden. Für die Liebe ist kein Platz im Leben des ehemaligen Poesiedozenten. Egal wie sehr sich Yara, gespielt von Hala Rajab, eine geflüchtete Ärztin, um ihn bemüht. "Diese Liebe hat keine Chance", analysiert Hala Rajab, "da er ihr als Schattenjäger seine wahre Identität ja nicht enthüllen darf. Und sie will sich auch nicht nur mit Hamids Problemen beschäftigen, weil sie selbst vergessen und nach vorn schauen will." Hala Rajabs Vater war ebenfalls in Saidnaya inhaftiert und ist an den Folgen der Folter gestorben, bevor sie nach Frankreich floh. Sie sagt: "Ich finde es wichtig, diese Geschichte zu erzählen, weil sie zeigt, wie sehr die Syrer und Syrerinnen gelitten haben und mit was sie sich bis heute, auch im Exil, auseinandersetzen müssen."
Begegnungen zwischen Opfern und Tätern
Anders der mögliche Täter Harfaz. Er hat sich schnell angepasst, steht kurz vor dem Master in Chemie und gibt sich zu Hamids Entsetzen als Regimegegner aus. Auch dies orientiert am realen Leben, berichtet Regisseur Jonathan Millet: "Mir haben Syrerinnen und Syrer in Deutschland immer wieder erzählt: 'Ich war im Supermarkt. Und da war dann plötzlich dieser Typ, der mich im Gefängnis sechs Monate lang gefoltert hat. Und jetzt kauft er da ein mit seiner Frau und ich kann nichts tun.'“
Prozesse auch in Deutschland
Die Zeichen verdichten sich, dass Hamid auf der richtigen Spur ist. Aber werden die überführten Täter je vor Gericht stehen? Nicht alle im Netzwerk glauben daran. Sie überlegen, ob sie ihren Verdacht an die Behörden weitergeben oder "selbst für Gerechtigkeit sorgen" sollen. Erst 2021 wird weltweit zum ersten Mal ein Syrer wegen Staatsfolter verurteilt. In Koblenz. Weitere Prozesse in ganz Europa folgen. Jonathan Millet: "Der Prozess in Koblenz war der entscheidende Schritt für die Syrer, um überzeugt zu sein: Ja, in Europa können wir Gerechtigkeit schaffen und alle vor Gericht bringen, die im Krieg auf der falschen Seite waren."
Autorin: Marion Ammicht
Stand: 26.01.2025 20:16 Uhr
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