So., 05.05.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Solidarität und Boykott
Antisemitismuskontroverse in der Kulturszene nach dem 7. Oktober
Die Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen sehen sich in diesem Jahr mit einem Boykottaufruf konfrontiert nachdem der Leiter Lars Henrik Gass den Terrorangriff der Hamas auf Israel in einem Facebook-Post verurteilt hatte. ttt hat mit Lars Henrik Gass und dem Leiter der Ruhrfestspiele Olaf Kröck über die Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit und die Relevanz differenzierter und auch kontroverser Debatten in der Kultur gesprochen.
Kritik statt Empathie
70 Jahre Kurzfilmtage Oberhausen. Eigentlich ein Anlass zu feiern. Doch die Stimmung bei der Eröffnung war getrübt, das Sicherheitsteam in Alarmbereitschaft. Man befürchtete pro-palästinensische Proteste. Festivalleiter Lars Henrik Gass hatte nach den Jubelfeiern von Hamas-Sympathisanten nach dem 7. Oktober 2023 klar Position bezogen, warb auf Facebook für die Solidarität mit Israel. "Dieser Post sollte ja zunächst einmal nur spontanes Entsetzen und auch Empathie zum Ausdruck bringen, angesichts dessen, was am 7. Oktober passiert ist, und damit natürlich auch zur Empathie aufrufen", so Lars Henrik Gass. Stattdessen folgt eine Welle der Kritik in den sozialen Medien. Anonyme Autoren eines Boykottaufrufs werfen ihm einseitige Parteinahme vor. Rund 2.000 Personen unterzeichnen, reihenweise werden Filme zurückgezogen. Bis heute vermisst Gass Unterstützung, auch aus der eigenen Branche.
Dabei stehen gerade die Kurzfilmtage für offenen Kulturaustausch. "Weg zum Nachbarn" war über Jahrzehnte das programmatische Motto. Leidenschaftlich wurde um politische Inhalte und den Film als Kunstform gestritten. Doch das scheint gerade unmöglich. Lars Henrik Gass: "Für die Kunst und die Ästhetik interessiert sich eigentlich gar keiner mehr. Und eigentlich soll die Kunst uns ja vertieftere Wahrnehmung, genaueres Denken ermöglichen. Genau das sehe ich infrage gestellt."
Kultur oder Politik?
Der Krieg in Gaza polarisiert. Kulturinstitutionen werden zur Bühne für einseitige politische Statements. Ob bei der Berlinale oder in Venedig, wo 20.000 Menschen mit einem Boykottaufruf den Ausschluss Israels fordern. Auch die Theaterlandschaft ist sensibilisiert. Olaf Kröck ist Intendant der Ruhrfestspiele Recklinghausen. 90 Produktionen aus aller Welt präsentiert er hier in den kommenden Wochen. "Wir haben niemanden ausgeladen, aber wir haben einfach entschieden, vielleicht bestimmte Kooperationswege erst mal nicht weiterzugehen", sagt Olaf Kröck, "und das ist gleichzeitig problematisch, weil: wir sind mit Gesinnungsbefragungen beschäftigt. Das geht in der Demokratie eigentlich nicht, das geht in der Kunst meiner Meinung nach auch nicht." So stehen in "Dibbuk" einem Stück der transnationalen Theaterkompanie "Kula" stehen Schauspieler*innen unter anderem aus dem Iran und Israel gemeinsam auf der Bühne. Interreligiöser Dialog mit den Mitteln des Theaters – die Uraufführung wird am 17. Mai 2024 bei den Ruhrfestspielen sein. Olaf Kröck meint zur Rolle der Kultur: "Kunst will immer etwas Unbestimmtes, etwas Ungenaues, Unscharfes, eher was Emotionales, als was Faktisches. Und Politik will das Gegenteil. Politik will das Konkrete, will das Genaue. Wenn aber Kunst politisch wird, dann vermischen sich diese beiden Ebenen. und dann fordert die Politik und damit also auch die Gesellschaft insgesamt von der Kunst plötzlich eine Stellungnahme im Sinne einer Positionierung, die eindeutig ist. Und damit kommt Kunst nicht gut klar."
Helfen Verhaltensregeln?
Doch wie umgehen mit diesem Dilemma? Der documenta-Skandal um antisemitische Bildsprache stellte die ganze Institution infrage. In Kassel wird nun ein "code of conduct" diskutiert – Verhaltensregeln für Verantwortliche, die garantieren sollen, was unser Grundgesetz ohnehin vorschreibt: die Freiheit der Kunst und den Schutz vor Diskriminierung. Bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen gab es unter dem Titel "Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit" eine Gesprächsreihe in der auch Ronya Othmann diskutierte. Sie war selbst Opfer einer Social Media Kampagne, weil sie in ihrer Zeitungskolumne antisemitische Denkmuster kritisiert hatte. Zu Verhaltensregeln für Kulturinstitutionen meint sie: "Sie könnten hilfreich sein, aber sie werden die Debatte und den Streit nicht ersetzen. Also wenn die einen sagen, die Vergewaltigungen vom 7. Oktober hat es nicht gegeben und den anderen dann vorwerfen, sie würden zionistische Propaganda verbreiten, dann haben wir ein Problem."
Ehrung und Sorge
Das Filmprogramm wurde in Oberhausen trotz aller Widrigkeiten gezeigt. Und für seine Solidarität mit Israel wird Festivalleiter Gass im Juni von der deutsch-israelischen Gesellschaft ausgezeichnet. Seine Sorge um den demokratischen Diskurs, sie bleibt: "Wir müssen uns doch fragen: Welche Kultur möchten wir? Möchten wir eine Kultur, die basiert auf einer Großerzählung eines israelbezogenen Antisemitismus? Oder wollen wir tatsächlich eine weltoffene Gesellschaft, in der wir ganz klar sagen: 'Das geht nicht!'."
Autor: Dirk Fleiter
Stand: 05.05.2024 18:35 Uhr
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