So., 05.05.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Feiern gegen die Staatsmacht
Subkultur in der DDR-Provinz im Jugendclub Extrem
In der Dorfgaststätte von Lugau, einem kleinen Dorf in der Niederlausitz, gab es den einzigen Nachtclub der DDR mit einem regelmäßigen Musikprogramm. Und so pilgerten in den 1980er und frühen 1990er Jahren Tausende in die Provinz, um im Jugendclub Extrem Punk- und Independent-Musik zu hören. Henri Manigk und Frank Kiesewetter dokumentierten mit ihren Fotos die Momente von Exzess und Freiheit in einem repressiven System. Über zweihundert ihrer Aufnahmen, Flyer, Stasi-Akten und Erinnerungen von Zeitzeugen versammelt der Bildband "Der Jugendclub Extrem". ttt hat mit dem Herausgeber Alexander Kühne und Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten gesprochen und ist zum Fotografen Henri Manigk nach Lugau gereist.
Ausbruch aus dem öden Alltag
Lugau in Brandenburg: eine Kirche, eine Hauptstraße, 500 Seelen – kaum zu glauben, dass im Tanzsaal der Dorfkneipe einmal das Herz der DDR-Underground-Musikszene schlug: im "Jugendclub Extrem". Es gab rauschhafte Konzerte und Partys. Ein Bildband erzählt jetzt die Geschichte des Clubs – jedes Foto das Dokument eines Traums von Freiheit in einem repressiven System. Die Bilder erzählen auch die Geschichte von Alexander Kühne, der 1984 mit ein paar Freunden den Club gründete: "Wir waren 17, 18-Jährige und es war grässlich", erzählt er, "man wurde die ganze Zeit indoktriniert mit Zeitungsschau und wie toll der Sozialismus ist, und der Jugendclub Extrem war eine Möglichkeit, es in diesem Land überhaupt auszuhalten. Unter dem Radar zu schwimmen oder durchzusegeln, um was Eigenes zu machen."
Vorbilder im Westen
Man schaute Videos im Westfernsehen, kopierte die Songs auf Kassetten: Glam-Rock und Independent-Musik. Die alte Konsum-Gaststätte wurde zum Konzertsaal und zur Disco. Man schminkte sich wie die New Romantics aus England. Clubmitglied und Partyfotograf Henri Manigk war mit der Kamera dabei. Machte Fotos von den Leuten, die sich fühlten wie in einem Club in London. "Wir konnten hier endlich die Musik spielen, die wir hören wollten. Ein DJ, der Modern Talking aufgelegt hat, wurde nie wieder eingeladen", berichtet Henri Manigk, der den Club zeitweise auch leitete. Und es gab Entdeckungen: "'Kotzübel' - das war die erste Punkband, die ich gesehen habe in meinem Leben. Die konnten nur 'ne halbe Stunde spielen - und das nicht richtig, aber das hat völlig ausgereicht, um den ganzen Saal hier zu flashen."
An der Staatsmacht vorbei
Der Club - ein Pilgerort für Punks und alle, die anders aussehen und vom Staat nichts wissen wollten. Doch ohne Staat ging nichts. Jedes Event musste genehmigt, Bestuhlungspläne vorgelegt werden. Offiziell waren nur 40 Prozent Westmusik erlaubt. Man umging die Regeln, soweit es ging. Clubgründer Alexander Kühne: "Wir haben nie auf den Bestuhlungsplan geachtet, der ja 150 Leute vorschrieb für diesen Saal, es waren fünfhundert, manchmal siebenhundert drin. Wir haben einfach gesagt: Augen zu und durch."
Nicht alle Dorfbewohner in Lugau waren glücklich mit den Besuchern und den zerdepperten Bierflaschen. Immer wieder schritt die Volkspolizei ein. Doch politische Parolen waren tabu. Der Club war Heimat für Außenseiter – aber offene Systemkritik wäre zu gefährlich gewesen. "Wir waren Opposition, ohne Opposition zu sein", sagt Alexander Kühne heute, "ein Besucher hat gesagt, das, was ich in Lugau an Freiheit erlebt habe, war viel stärker als irgend Parole gegen das DDR-System."
Nach der Wende
Nach dem Mauerfall machte man in Lugau einfach weiter – bloß anders. Viele Clubbesucher gingen in den Westen. Westbands entdeckten die Ost-Szene. Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten trat auf zusammen mit der Band Crime and the City Solution und erzählt: "Das Ostpublikum war spontaner. In den frühen 80er Jahren war im Westen das Publikum teilweise abgebrüht, sehr abgehoben. Außerdem gab es sehr viele Drogen, was es im Osten, glaube ich, nicht gab. Da gab es nur Alkohol. Insofern herrschte da so eine fröhliche, trunkene Stimmung."
Eine Zeitlang versuchte man es noch mit dem West-Import Techno – das kam weniger gut an. Nach zehn wunderbaren Jahren war Schluss. Doch die Erinnerung an den Jugendclub Extrem ist lebendig. Das Museum im Renaissance-Schloss Doberlug-Kirchhain ein paar Kilometer von Lugau entfernt bereitet gerade eine Foto-Ausstellung vor, die die Geschichte des Clubs erzählt. Henri Manigk, der einen Teil der Fotos geschossen hat, freut sich: "Der Underground-Szeneclub im staatlichen Schlossmuseum, das hätte ich früher nicht gedacht, dass wir mal hier landen." Der Club ist im Mainstream angekommen.
Ein Phänomen
Im Rückblick erscheinen die Konzerte und Partys in Lugau wie eine Zeitkapsel, ein unwiederholbares Phänomen, das bis in die Gegenwart strahlt. "Die Leute finden es heute noch spannend, weil dieser überschäumende Wahnsinn in einem Mangelsystem natürlich noch ganz andere Dinge hervorruft, als wenn man Partys macht, wo man sowieso alles haben kann", blickt Alexander Kühne zurück. Der Jugendclub Extrem - ein inspirierendes Stück Popgeschichte.
Autorin: Hilka Sinning
Stand: 05.05.2024 18:54 Uhr
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