So., 01.12.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Der Boom des Ressentiments
"Unsere Gesellschaften sind zu Fabriken unwürdiger Situationen geworden", sagt Cynthia Fleury. Eine Steilvorlage für Frustration und dunkle Ressentiments voller gesellschaftlicher Sprengkraft. Darüber hat die Pariser Psychoanalytikerin und Philosophin gerade vielbeachtete Bücher geschrieben. "Das Ressentiment ist zunächst ein psychisches Moment, bevor es ein historisches und politisches Moment wird", sagt Fleury. "Leider wird der Autoritarismus oft so dargestellt, als ob es der große Führer wäre, der das Volk zum Umkippen bringt. Das stimmt aber nicht. Es waren die Wähler, die Trump gewählt haben. Sie waren es, die Trump fabriziert haben."
Manche Herrschende sehen Krieg als Lösung – nicht als Problem
Verlockt von dem Irrglauben zwischen den Lippen des Herrschers und der Seele des Volkes gebe es eine direkte Verbindung. Verführt von vollmundigen Versprechen und hemdsärmeliger Agitprop. Autoritäre regieren durch mit Disruption, Spaltung, Zerschlagung und Störung. Das dadurch entstehende Machtvakuum versuchen sie mit persönlicher Autorität zu füllen. Man kann das überall auf der Welt gerade deutlich fühlen.
"Ich wünschte, ich könnte sagen, dass wir eine Schar intelligenter und reflektierter Machthabender hätten, die erkennen könnten, dass Frieden dem Krieg vorzuziehen wäre. Aber das tun sie nicht", sagt Richard Overy, einer der großen Historiker unserer Zeit. In seinem neuesten Buch nimmt er sich der grundsätzlichen Frage an: Warum Krieg? "Wir leben heute mit Menschen, die denken, dass Krieg die Lösung und nicht das Problem ist. Das ist etwas, das sich durch die ganze Geschichte zieht: Krieg als Lösung und nicht als Problem zu sehen. Und deshalb greifen die Menschen so bereitwillig zum Krieg, wenn er notwendig erscheint. Putin hätte in Tschetschenien, in Georgien, auf der Krim und in der Ukraine sicherlich viel erreichen können, ohne zur Gewalt greifen zu müssen. Aber er griff zur Gewalt als Lösung."
Alle 150 Jahre gerät die Weltordnung in Bewegung
Der russische Waffengang ist nicht nur an die Ukraine adressiert, sondern auch an den Westen. In dem Moskauer Drama aus Trotz und Furcht vor Erniedrigung, aus Nachahmungseifer und Rachsucht lässt sich die politische Pathologie des Ressentiment freilegen. "Immer wenn sich Weltordnungen verändern, ungefähr so alle 100, 150 Jahre, gibt es eine Phase, in der sich plötzlich die tektonischen Platten der Weltordnung beginnen zu verschieben", sagt der Politikwissenschaftler Peter R. Neumann.
"Und in dieser Phase, in der man noch nicht genau weiß, was am Ende daraus entstehen wird, kommt es immer zu vielen Krisen und Konflikten. Also wir, besonders in Europa, hatten eine Zeitlang gedacht, es wäre möglich, diese Anarchie in der Weltpolitik zu verrechtlichen. Nicht mehr das Recht des Stärkeren, sondern im Prinzip: Gesetze, Völkerrecht, an die sich alle halten und dann gibt es keinen Krieg mehr. Dieses Projekt, das sehen wir jetzt, ist im Grunde genommen, nicht gelungen."
Die Zukunft hat die Seiten gewechselt
Stattdessen Choreographien der Gewalt und leidenschaftliche Verfeindung. Der Traum von einem friedlichen Weltenrund, von universellen Rechtsnormen – vorläufig ausgeträumt. Die Krise, schrieb einst Antonio Gramsci, besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue noch nicht zur Welt kommen kann. "Wir werden ein wachsendes Gefühl der Unsicherheit sehen angesichts all dieser destabilisierenden Faktoren, der geopolitischen Probleme, der Probleme des Klimawandels, des Terrorismus", sagt der Historiker Overy. "Die Tatsache, dass wir eine nukleare Bedrohung haben, hält die Menschen nicht davon ab, zu kämpfen und hat die Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg nicht davon abgehalten zu kämpfen."
Zeiten, in denen die Zukunft erst einmal die Seite Richtung Autokratie gewechselt hat. Auf die von politischen Konvulsionen geschüttelte Gegenwart reagieren weite Teile der westlichen Gesellschaften mit krampfhafter Selbstbehauptung im Nationalen.
Kollektive Verachtung stärkt die eigene Gruppe
"In solchen Situationen, in denen es viele Krisen und Veränderungen gab, in denen sich die Position der Gesellschaft eigentlich zu ihren Ungunsten verändert hat, in solchen Situationen wurde der Resonanzboden für extreme und radikale Kräfte natürlich immer größer", sagt Neumann. "Die artikulieren das, die amplifizieren das und die identifizieren Schuldenböcke. Und diese Schuldenböcke, das sind typischerweise immer zwei. Das sind die Fremden in der Gesellschaft und das sind die liberalen Eliten, die sich gegen die Mehrheit der Bevölkerung verschworen haben. So funktioniert Radikalisierung im Rechtsextremismus. So funktioniert das übrigens seit 200 Jahren."
Einen Feind schaffen: Die kollektive Verachtung der anderen stärkt die eigene Gruppe und wärmt sie mit Diskurshitze. Alle eigenen Versäumnisse sind vom Tisch. Das macht Herablassung attraktiv. "Faschismus, Populismus, das funktioniert immer auf die gleiche Weise", sagt die Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury. "Man geht außerhalb und innerhalb der Gesellschaft auf die Jagd nach dem falschen Objekt. Außerhalb der Gesellschaft ist es der Ausländer. Innerhalb der Gesellschaft kann es der Arbeitslose, der Migrant sein. Man polarisiert und erschafft also bereits diese beiden schlechten Objekte, die sehr wichtig sind, um eine Gemeinschaft zu bilden, eine Gemeinschaft, die sich also gegen diese schlechten Objekte zurückziehen wird."
Kultur, Fürsorge und Bildung sind essenziell für Demokratie
Eine sich zunehmend verengende, ressentimentgetriebene Gegenwart. Wir gegen die, die gegen uns. Um aus dieser finsteren Polarisierung wieder herauszufinden, bringt Cynthia Fleury die Würde ins Spiel. Sie wird gerne beschworen, aber in der Realität scheint sie immer mehr zu verschwinden. "Überprüfen wir die Realität der Würde vor Ort, in der Nähe der Schwächsten. In diesem Moment entdeckt man tatsächlich die systemische Herstellung unwürdiger Situationen", sagt Fleury. "Man entdeckt auch wie mühsam die Herstellung der Würde ist. Die Lösung besteht zweifellos darin zu verstehen, dass Kultur, Werte, Fürsorge und Bildung am wichtigsten sind für die Erhaltung der Demokratie."
Bildung und Fürsorge sind entscheidend für die Freiheitsfähigkeit des Menschen, für seine Emanzipation, für die Achtung untereinander, für Vertrauen. Deshalb ist es wichtig, die Politik über die Fürsorge, die sie den Menschen angedeihen lässt, neu zu begründen.
Buch-Tipps
Cynthia Fleury: "Die Klinik der Würde", Suhrkamp.
Cynthia Fleury: "Hier liegt Bitterkeit begraben - über Ressentiments und ihre Heilung", Suhrkamp.
Richard Overy: "Warum Krieg?", Rowohlt Berlin.
Peter R. Neumann: "Die Rückkehr des Terrors", Argon Verlag.
Autorin: Christine Hamel
Stand: 01.12.2024 18:45 Uhr
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