So., 02.06.24 | 23:20 Uhr
Das Erste
Streit um das angemessene Erinnern – Das neue Gedenkstättenkonzept von Claudia Roth
Marie Zachger, Tiktok Creator, interviewt eine Überlebende in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Sie wolle über Social Media die Geschichte nahbar gestalten: "Und dafür müssen wir eben auch in die Lebensrealitäten der Menschen – egal welchen Alters, egal welcher Hautfarbe, wie auch immer." In der Generation der unter 20-Jährigen haben oft nicht einmal mehr die Großeltern die Nazi-Zeit erlebt. Wie hält man die Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit lebendig?
"Also der entscheidende Punkt ist, dass man tatsächlich von historischen Orten ausgeht", erklärt Oliver von Wrochem, Leiter KZ-Gedenkstätte. "Wir sind hier in Neuengamme, an einem historischen Ort, der hat auch eine historische Relevanz. Und an diesem Ort kann man Geschichte erfahren. Das ist ein Unterschied zu Orten, die diese Potenz nicht haben."
Ein inklusives Erinnerungskonzept für Deutschland?
Gedenkorte sind das eine - doch an was muss eigentlich gedacht werden? Für Kulturstaatsministerin Claudia Roth ein wichtiges Anliegen: "Ich komm aus Augsburg. Dort leben 50 Prozent Menschen mit Migrationsgeschichte. Wir sollten uns aber auch überlegen - in der Nähe von Augsburg ist Dachau - wie vermittle ich den Terror, das Verbrechen des Nationalsozialismus in diese Einwanderungsgesellschaft hinein? Dass sie auch zu ihrer Geschichte wird."
Bisher konzentriert sich unser staatliches Gedenken auf die doppelte Diktatur-Vergangenheit, die NS-Verbrechen und auch das SED-Unrecht. Claudia Roths Ansatz: Nun soll auch an die wechselvolle Demokratie-Geschichte Deutschlands erinnert werden. Sie will den Erzählungen der Einwanderungsgesellschaft Raum geben und Opfer rechten Terrors würdigen. Auch Deutschlands koloniale Vergangenheit war lange ein blinder Fleck, wie beispielsweise die Aufarbeitung des Völkermords an den Herero und Nama im heutigen Namibia zeigt. Oliver von Wrochem sagt: "Ich bin auch der Meinung, dass man auch andere Bereiche der Erinnerungskultur in den Blick nehmen muss, beispielsweise das koloniale Erbe, beispielsweise auch die Orte der Demokratie, beispielsweise auch Orte der Migrationsgeschichte." Anders als als Roth findet er jedoch, dass jeder Bereich sein eigenes Augenmerk braucht. "Es braucht kein gesamtstaatliches Konzept."
Jeder Bereich der deutschen Geschichte ist einzigartig. Aber ist es wirklich klug, sie in einem gemeinsamen Erinnerungskonzept zu verbinden? Die Dachverbände deutscher Gedenkstätten befürchten ein Vermischen und Vermengen – sehen die Einzigartigkeit des Holocausts in Gefahr. Kaum hatte Roth ihre Pläne konkretisiert, hagelte es Kritik: "Amtsversagen". Befürchtet wird eine "Schule des Verlernens". Roth wird "Ideologie und deutscher Selbsthass" vorgeworfen. In einem Protestbrief wird Roths Papier gar "geschichts-revisionistisch" genannt. "Wenn man sagt, wir vergleichen, oder es gibt Vergleiche, dann ist das keine Gleichsetzung", antwortet Claudia Roth. "Mir zu unterstellen, ich wolle nationalsozialistisches Unrecht relativieren oder ich wolle SED-Unrecht bagatellisieren... Also Entschuldigung, das ist wirklich unhaltbar. Und das ist auch wirklich absurd. Man muss nicht immer mit dem Hammer sofort draufhauen", erklärt die Kulturstaatsministerin. Dennoch muss man fragen: ist ein gemeinsames Erinnerungskonzept überhaupt möglich, ohne die Singularität der Shoa zu gefährden?
Roth:" Erinnerung ist nicht statisch"
"Wir reden auch von "Zivilisationsbruch" beispielsweise, bezogen auf die NS-Verbrechen", meint Oliver von Wrochen. "Und wenn man dann ein Konzept aus dieser Perspektive denkt, dann muss man sich immer auch überlegen: Wie stehen diese Dinge in Relation zueinander? Und dann wird man dazu kommen, hoffentlich, dass man auch Prioritäten setzt und auch eine relationale Verbindung zwischen den verschiedenen Verbrechensarten herstellt."
Die Gedenkstätten bestehen auf ihrer herausgehobenen Stellung. Die Zeit des Nationalsozialismus und der DDR müsse Grundlage bleiben. Sie befürchten, dass die Verbrechen einzelner Täter auf eine Stufe mit staatlichem Unrecht gestellt werden. Doch wenn sich Gesellschaft verändert, braucht es neue Vermittlungswege. "Erinnerung ist ja nicht etwas, was sich in der Vergangenheit einmauert", sagt Roth. "Es ist nicht etwas, was statisch ist, sondern offen, um auch die Realität einer diversen, einer bunten Einwanderungsgesellschaft mit einzubeziehen."
Am 6. Juni trifft man sich am Runden Tisch. Höchste Zeit, dass miteinander über zeitgemäßes Gedenken gesprochen wird. Das sind wir den Zeitzeugen und Opfern schuldig.
(Beitrag: Jonas Kühlberg)
Stand: 02.06.2024 18:25 Uhr
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