So., 02.06.24 | 23:20 Uhr
Das Erste
Schriftsteller in Sorge um Europa
Drei Stimmen zu Europa.
Der Wiener Schriftsteller Robert Menasse hat schon zwei Romane über die EU geschrieben und kürzlich ein Essay zu ihrer Zukunft veröffentlicht: "Für die Menschen in Europa in den verschiedenen Mitgliedstaaten ist Brüssel so ein schwarzes Loch. Das verschluckt alles und löscht Materie, die man gewohnt ist, aus. Meine Identität, zum Beispiel."
Warum all diese Missverständnisse?
Der niederländische Schriftsteller Arnon Grünberg hat Klärungsbedarf: "Was meinen wir genau mit Europa? Ist es die EU? Ist es die Geschichte von Europa? Welche Gemeinsamkeit gibt es, welche nicht?“
Wie geht es weiter?
Die italienische Autorin Francesca Melandri sieht die EU an einem Scheideweg: "Wir müssen uns entscheiden. Entweder werden wir wirklich zum Kontinent der Demokratie, der Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit, oder nicht. Es gibt nichts dazwischen."
Menasse findet: Die Idee ist genial, doch an der Umsetzung hapert’s: "Es ging ja dann nach dem Zweiten Weltkrieg darum, wie kann man jetzt wirklich einmal nachhaltig Frieden in Europa schaffen. Und die haben eine Erkenntnis gehabt, die ist einfach genial. Sie haben gesagt, Friedensverträge sind das Papier nicht wert, auf dem sie besiegelt sind. Wir müssen das ganz anders machen. Und die Idee war, die Ökonomien der teilnehmenden Staaten so miteinander zu verflechten und so eine innere wechselseitige Abhängigkeit zu produzieren, dass keiner mehr etwas gegen einen anderen machen kann, ohne sich selbst zu schaden.“
Doch statt dieses Gemeinschaftsprojekt weiterzuentwickeln, pochen Politiker*innen EU-weit auf die eigenen, nationalen Interessen. Es ist ein Schritt zurück, den die Nationalisten wollen. So wie in Italien, wo vorletztes Jahr die Postfaschistin Georgia Meloni an die Macht kam. Sie möchte die EU verändern. Die Römerin Francesca Melandri beobachtet Meloni genau. Deren überraschend gemäßigte Politik sei nur ein halbherziges Bekenntnis zur EU. Melandri ist überzeugt: "Alle waren überrascht, dass sie ihre extrem EU-kritische Haltung aufgegeben zu haben scheint. Keine Rede mehr von nationaler Souveränität oder der Befreiung von der EU. Macht natürlich Sinn, wenn man bedenkt, wie viel EU-Gelder Italien bekommt. Dann will man nicht diejenige sein, die sagt, ich hasse die EU. Man kann halt nicht Beides haben."
Auch in den Niederlanden: Aufstieg eines EU-Hassers. Doch seit seinem Wahlsieg im vergangenen Jahr spricht Rechtspopulist Geert Wilders nicht mehr von einem Ausstieg aus der Union. Bis vor kurzem war ohnehin unklar, ob er überhaupt an die Regierung kommt. Arnon Grünberg ist nicht überrascht über den Rechtsruck in seiner Heimat. Dass sich Parteien gefunden haben, die mit dem ultrarechten Wilders koalieren, sieht er pragmatisch. Was in Deutschland noch undenkbar scheint, ist in den Niederlanden bereits Normalität: "Da gab es, glaube ich, auch die Angst, dass wenn wir jetzt eine Regierung machen ohne ihn, dass er bei Neuwahlen so groß wird, dass es wirklich gefährlich wird", erklärt der 53-Jährige. "Und jetzt gibt es drei Parteien, die haben gesagt, wir machen das mit ihm. Aber es gibt nicht viel Freude, ist mein Eindruck."
Der Krieg in der Ukraine, die anhaltenden Fluchtbewegungen. Grenzüberschreitende Krisen und Konflikte, wohin man schaut. Und was macht die EU? Sie driftet nach rechts und schottet sich ab, statt gemeinsame Lösungen zu suchen. Was bleibt von der europäischen Idee? "Die Europäische Union ist immer mehr zu einer Festung geworden", analysiert Francesca Melandri. "Das ist völlig inakzeptabel und muss sich ändern. Wenn wir der Hort der Demokratie sein wollen, als den wir uns gerne sehen, müssen wir entsprechend handeln.“
Robert Menasse ist pessimistisch: "Alle großen Krisen, alle großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind längst transnational. Ja, und das kann keine Nation alleine für sich in Souveränität lösen. Das heißt, das, was die Rechtsextremen versprechen, werden sie nicht liefern können. Das Einzige, was sie wirklich gut können, ist dann dafür Sündenböcke anbieten.“
Die EU muss dringend reformiert und neu gedacht werden, davon ist Menasse überzeugt. Er will weiter für die europäische Idee kämpfen: "Diese jetzt anstehende Wahl zum Europäischen Parlament ist aus einem ganz einfachen Grund wichtig: Es steckt zwar die europäische Demokratie in den Kinderschuhen. Aber es ist das Einzige, was wir haben. Ich habe irgendwie die Hoffnung, dass in den nächsten fünf Jahren, vor allem, wenn es wirklich so kommen sollte, dass die Rechtsextremen so stark ins Parlament gewählt werden und damit noch verstärkt Blockaden errichten können, die Notwendigkeit einer Reform deutlicher wird.“
Trotz aller notwendigen Kritik an der Europäischen Union: Ihre Gründung erforderte viel politische Kreativität. Zeit, wieder mehr Fantasie zu wagen.
(Beitrag: Yasemin Ergin)
Stand: 04.06.2024 13:28 Uhr
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