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Oft übersehen, oft bedroht – Ein Buch über Obdachlosigkeit bei Frauen

Oft übersehen, oft bedroht – Ein Buch über Obdachlosigkeit bei Frauen | Video verfügbar bis 06.10.2025 | Bild: NDR
Auch Autorin Linda Rennings lebte auf der Straße, sie hat den Weg aus der Obdachlosigkeit geschafft.
Auch Autorin Linda Rennings lebte auf der Straße, sie hat den Weg aus der Obdachlosigkeit geschafft. | Bild: NDR

Obdachlosigkeit ist in Deutschland ein riesiges Problem, nicht nur in den Großstädten. Aber die Frauen werden dabei oft übersehen, dabei sind sie besonderen Schwierigkeiten und Bedrohungen ausgesetzt: Ein großes Problem ist zum Beispiel Gewalt durch Männer, ein anderes die Gefahr, von Zuhältern abhängig gemacht und ausgebeutet zu werden. Auch Linda Rennings lebte auf der Straße, sie hat den Weg aus der Obdachlosigkeit geschafft und den Verein "Heimatlos in Köln" gegründet. In ihrem Buch "Rebellin der Straße" beschreibt sie eindrücklich von ihrem Leben, ihrem Engagement und auch über das Versagen der Politik beim Thema Wohnungslosigkeit.
"Als Obdachloser bist du im Stress", weiß Linda Rennings. "Es fängt morgens schon an, wenn ich wach werde: Jeder normale Bürger, zu Hause im Badezimmer, was macht der, wenn er wach wird? Der geht aufs Klo. Weil er muss." In ihrem Buch erzählt die Autorin, wie es ist, wenn man keine Toilette hat. "Männer stellen sich irgendwo an einen Baum oder in eine Ecke. Unschön, aber machbar. Dir platzt weder die Blase, noch musst du dir in die Hose machen. Frauen auf der Straße haben vor allem am Morgen dieses Problem: Wo kann ich in Ruhe meine Notdurft verrichten?" Und dann stellen sich weitere Fragen: Wo wasche ich mich? Wo kriege ich ein Frühstück her, das ich mir leisten kann? Wer schützt mich vor Gewalt?

Fast eine halbe Million Menschen in Deutschland sind wohnungslos, schlüpfen bei Bekannten unter. Mehrere Zehntausend leben ganz auf der Straße.
Fast eine halbe Million Menschen in Deutschland sind wohnungslos, schlüpfen bei Bekannten unter. Mehrere Zehntausend leben ganz auf der Straße.  | Bild: NDR

"Ich hab das Buch geschrieben, zum einen für mich selbst, um meine Geschichte aufzuschreiben. Zum anderen, weil ich wollte, dass das Thema obdachlose Frauen wieder in die Gesellschaft, die Medien, in die Öffentlichkeit getragen wird." Linda Rennings weiß, wovon sie schreibt. Wie ist sie obdachlos geworden? "Ich bin krank geworden, habe meinen Job verloren und konnte die Miete nicht zahlen, bin geräumt worden. Der Klassiker!" Linda hat in Köln einen Verein für obdachlose Frauen gegründet.
Fast eine halbe Million Menschen in Deutschland sind wohnungslos, schlüpfen bei Bekannten unter. Mehrere Zehntausend leben ganz auf der Straße. "Ich habe erst letzte Woche einen Notfallanruf von einer 73-Jährigen erhalten. Es gibt Frauen, die bis zu 80 Jahre alt sind und auf der Straße leben. Ich finde, das ist ein Skandal." Die Politik müsste bessere Strukturen bereitstellen: "Wir haben ja nirgendwo in der Stadt ein Schild, wo draufsteht: Da ist eine Einrichtung. Da ist ein Sozialarbeiter. Entweder ich habe Glück und treffe jemanden, der mir hilft, oder man versinkt."

Streetworkerin Rike Lehmbach arbeitet im Berliner Duschmobil. Ein Angebot für obdachlose Frauen.
Streetworkerin Rike Lehmbach arbeitet im Berliner Duschmobil. Ein Angebot für obdachlose Frauen. | Bild: NDR

In Berlin wird das Duschmobil für die nächste Klientin vorbereitet. Streetworkerin Rike Lehmbach erklärt, warum ihr Angebot sich nur an Frauen richtet: "Das geht so ein bisschen aus der Überzeugung heraus, dass das Leben auf der Straße sie nochmal mit einer anderen Härte trifft als Männer. Eben weil Frauen in unserer Gesellschaft häufig von sexualisierter Gewalt betroffen sind und deswegen besondere Schutzräume brauchen." Hier bekommen sie frische Kleider, Unterwäsche und einen Kaffee. Und sie können duschen, so lange sie wollen. "Duschen ist ein Stück Lebensgefühl", berichtet eine Klientin. "Man kann lange ohne aushalten, aber ab und zu mal eine heiße Dusche, mit Haarewaschen – einfach mal alles ablaufen lassen."

Elke Ihrlich und Christin Weyershausen wissen um die Charme obdachloser Frauen. Sie arbeiten beim Sozialdienst katholischer Frauen.
Elke Ihrlich und Christin Weyershausen wissen um die Charme obdachloser Frauen. Sie arbeiten beim Sozialdienst katholischer Frauen. | Bild: NDR

Wohnungslosigkeit ist kein persönliches Versagen, sagen Elke Ihrlich und Christin Weyershausen vom Sozialdienst katholischer Frauen. Trotzdem schämen sich viele. "So gibt es manchmal Frauen, die gehen tagsüber einer Arbeit nach und nachts schlafen sie in ihrem Auto oder sonst wo", weiß Ihrlich. "Und auf der Arbeit merkt man nicht, dass sie wohnungslos sind." Weyershausen ergänzt: "Ich kenne auch aus dem privaten Kontext Menschen, die wegen Eigenbedarf ihre Wohnung verloren haben und einfach keine neue gefunden haben." Wo die Mieten rasant steigen, wo Wohnen zum Luxus wird, kann das vor allem für Frauen gefährlich werden: Der Partner verdient mehr, hat deshalb den Mietvertrag unterschrieben, das Paar trennt sich – die Frau landet auf der Straße.
"Die größte Gruppe sind Frauen zwischen 30 und 50, eben aus diesen Trennungsgründen", weiß Elke Ihrlich. "Es gibt aber auch ältere Gruppen. Manche sind sogar 80. Das sind Frauen, die früher wenig verdient haben, weil sie die Kinder großgezogen haben, und dann die Miete nicht mehr tragen konnten."

108 Frauen haben dank Housing First in Berlin eine Wohnung. Martina ist vor ein paar Wochen eingezogen.
108 Frauen haben dank Housing First in Berlin eine Wohnung. Martina ist vor ein paar Wochen eingezogen. | Bild: NDR

Einige soziale Träger bieten Zimmer für Obdachlose an. Das ist oft mit Bedingungen verknüpft: Zum Beispiel Schulden in den Griff bekommen oder, für Suchtkranke, clean werden. Mit diesem Druck und der ständigen Kontrolle kommen viele nicht zurecht. Deshalb gibt es "Housing First". "Wir helfen den Frauen dabei, einen eigenen Mietvertrag abzuschließen, in einen eigenen Wohnraum zu gehen. Und dann fangen wir an, an den Themen zu arbeiten, die die Frauen mitbringen", erzählt Christin Weyershausen. Ein eigener, sicherer Ort, ohne Bedingungen. 108 Frauen haben dank Housing First in Berlin eine Wohnung. Auf der Warteliste stehen fast 200 alleinstehende Frauen und mehr als 100 mit Kindern. Martina ist vor ein paar Monaten eingezogen: "Ich hab einen Rückzugsort, ich fühle mich wohl! Ich hab ne ganz andere Lebensqualität hier zu wohnen. Ich kann hier kochen. Ich bin da in meinem Bereich und das finde ich sehr schön."
Auch Linda hat inzwischen wieder eine Wohnung. Für Frauen, die auf der Straße leben, muss viel mehr getan werden, schreibt sie in ihrem Buch: "Es braucht andere Angebote, tagesstrukturierende Maßnahmen. Es braucht niedrigschwellige Arbeitsangebote. Es braucht niedrigschwellige Aufenthaltsorte. Und all das gibt es viel zu wenig für die gestiegene Zahl der wohnungslosen Frauen."

Linda Jennings: "Rebellin der Straße"
erscheint am 15. Oktober 2024
Rowohlt Verlag
Preis: 14 Euro

(Beitrag: Niels Grevsen)

Stand: 06.10.2024 23:56 Uhr

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