So., 22.09.24 | 23:30 Uhr
Das Erste
Die Schriftstellerin Neige Sinno und ihr Roman "Trauriger Tiger"
Erst als Erwachsene fand die französische Schriftstellerin Neige Sinno Worte für das Ungeheuerliche, das ihr als Kind im Alter zwischen 7 und 14 Jahren widerfahren war: Ihr Stiefvater hatte sie jahrelang sexuell missbraucht und vergewaltigt. Es dauerte noch einmal zwei Jahrzehnte, bis die französische Autorin und Literaturwissenschaftlerin die Geschichte ihres Missbrauchs in einem Buch verarbeiten konnte: "Trauriger Tiger", in Frankreich war das Buch ein Bestseller. Dabei ist die Lektüre schwer zu ertragen. "ttt" hat Neige Sinno getroffen.
Klug und mutig: "Trauriger Tiger" von Neige Sinno
Klug. Mutig. Dabei auch ein wenig zerbrechlich – Neige Sinno, Schriftstellerin, Literaturpreis-Trägerin. Sie ist nach Berlin gekommen, um ihr Buch "Trauriger Tiger" vorzustellen. Es handelt von dem Missbrauch, den sie als Kind durch ihren Stiefvater erlitten hat. In Frankreich haben die Käufer es den Buchhändlern aus der Hand gerissen, trotz des sensiblen Themas – oder vielleicht gerade deswegen. "In Frankreich wird heftig darüber debattiert. Es gibt ein immer größeres Bedürfnis bei immer mehr Menschen über genau diese Themen zu sprechen und nachzudenken, nämlich den sexuellen Missbrauch von Kindern. Ich glaube, die Zeit ist reif für mein Buch. Die Menschen sind bereit, sich darauf einzulassen", erzählt Neige Sinno.
Detailliert und radikal schildert die Autorin ihre Geschichte
Ort des Geschehens: Ein abgelegenes Dorf in den französischen Alpen. Dort lebt Neige mit ihrer Familie: Mutter, drei jüngere Geschwister und der Stiefvater, Bergführer, ein charmanter Mann. Als Neige 7 Jahre alt ist, vergewaltigt er sie zum ersten Mal. Detailliert schildert die Autorin, wie er seinen Penis mit Gewalt in ihren Mund steckte – eine Zumutung für manche Leser. "Ich kann nicht über sexuelle Gewalt an Kindern sprechen und dabei im Abstrakten bleiben. Es geht hier um konkrete Gewalt, die an einem Kind verübt wird. Nur so kann sich der Leser vorstellen, wie die Taten exakt ablaufen und ihre Schwere begreifen", so die Schriftstellerin.
Niemandem fällt etwas auf
Neige ist wie versteinert. Allein mit dem, was ihr geschieht. Niemandem fällt etwas auf. Der Stiefvater macht weiter, sechs Jahre lang. Sagt, es ist Liebe. "So hat er jedenfalls argumentiert. Nämlich, dass er mir nah sein wollte und sich aus tiefstem Herzen eine Beziehung zu mir wünschte. Und dass er diese Liebe nur in einer sexuellen Beziehung ausdrücken konnte – zu einem Kind und mit Gewalt erzwungen! Das ist völlig absurd!", schildert Neige Sinno.
Sinno reflektiert und analysiert die Mechanismen des Missbrauchs
Im Buch seziert Neige Sinno die Mechanismen des Missbrauchs. Die haarsträubenden Rechtfertigungen der Täter. Wie sie ihre Opfer manipulieren und zum Schweigen bewegen. Erst mit zwanzig Jahren erzählt Sinno ihrer Mutter von dem Missbrauch. Heute ist sie selbst Mutter einer Tochter. Heute versteht sie, warum sie jahrelang geschwiegen hat. "Man schafft es einfach nicht zu reden. Das habe ich auch meiner Tochter erklärt. Im Buch berichte ich, wie sie mich während unserer Gespräche fragt, aber warum hast du deiner Mama nichts gesagt? Die Wahrheit ist: Man steht unter Zwang. Es ist Teil der Gewalt, der man ausgesetzt ist, die einem den Mund verschließt. Die meisten Missbrauchsopfer reden niemals", so die Autorin.
"Es gibt nichts, was mein Leiden wiedergutmachen könnte"
Neige Sinno weiß, dass Mütter ihre Kinder nicht immer beschützen können. Ihre eigene Mutter trennte sich damals von dem Täter. Sie unterstützte ihre Tochter, als diese ihn anzeigte, per handgeschriebenem Brief an die Staatsanwaltschaft. Der Stiefvater wurde festgenommen, angeklagt und zu einer 9-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die er in Marseille absaß. Nach 5 Jahren wurde er entlassen, begann ein neues Leben mit einer anderen Frau. Im Buch wird er am Ende zu einem traurigen Tiger. Verziehen hat sie ihm nie. "Es gibt nichts, was mein Leiden wiedergutmachen könnte. Selbst wenn er sich umgebracht hätte, wäre das nicht genug. Dass er ein neues Leben anfangen konnte, macht mich wütend. Das ist eine Ungerechtigkeit, die durch nichts im Leben kompensiert werden kann. Für mich gibt es kein Happy End. Das Problem bleibt bestehen", erzählt Neige Sinno.
Neige Sinno spürt die Betroffenheit des Publikums
Literarisch sieht sich Neige Sinno in einer Linie mit anderen Autorinnen, die in jüngster Zeit in Frankreich Skandale ausgelöst haben. Es gab Gerichtsverhandlungen, auch gegen Prominente wurde ermittelt. Als Präsident Macron die Leinwand-Ikone Gérard Depardieu gegen Sexismus-Vorwürfe verteidigte, erntete er einen Shitstorm. Die Zeiten, in den man Tätern ihr sexuelles Fehlverhalten nachsah, sind auch in Frankreich vorbei. Bei ihren Lesungen spürt Neige Sinno Betroffenheit beim Publikum, aber auch Wut. "Auch ich spüre Wut, die in mir brennt, aber sie ist positiv. Es ist die gleiche Wut, die die MeToo-Bewegung vorantreibt. Die Debatte wird vor allem von jungen Frauen geführt. Die meisten Leute, die zu meinen Lesungen kommen oder sich Bücher signieren lassen, sind sehr jung. Es ist IHR Kampf", erklärt Sinno.
Nichts in "Trauriger Tiger" ist schwarz-weiß
In ihrem Buch beleuchtet Neige Sinno das Thema Missbrauch von vielen Seiten, persönlichen und gesellschaftlichen. Sie hinterfragt ihre eigenen Schlüsse und Gedanken. Nichts in "Trauriger Tiger" ist schwarz-weiß. "Ich versuche, meine eigene Geschichte wie unter einer Lupe zu betrachten. Das zeichnet den Text aus, er ist immer auf der Suche, aber findet keine endgültigen Antworten. Die muss jeder einzelne von uns bei sich selbst finden", erzählt die Schriftstellerin. Zugegeben: Der sezierende Blick in "Trauriger Tiger" ist stellenweise kaum zu ertragen. Aber wie Neige Sinno sagt: Nur wer genau hinschaut, kann Leid verhindern.
(Autorin: Hilka Sinning)
Stand: 22.09.2024 18:42 Uhr
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