So., 19.11.23 | 23:05 Uhr
Das Erste
Rache: Über ein existenzielles Bedürfnis
Ein Tun, entfacht zwischen Zorn und Wunsch nach Gerechtigkeit. Rache. Das lodernde Bedürfnis auf eine Verletzung zu antworten, indem man verletzt. Keine menschliche Regung verknüpft Affekt und Kalkül, Kränkung und Selbstermächtigung stärker. Es tut gut zu rächen. Auch wenn es selten Gutes schafft.
Rachegeschichten sind so alt wie unsere Kultur
"Es ist ein verdrängtes, archaisches, sehr starkes Relikt unseres Daseins", sagt der Literaturwissenschaftlers Jürgen Wertheimer. "In der inneren Sache, in der emotionalen Befindlichkeit der Menschen war das Motiv der Rache immer anwesend. Jetzt bricht sie sich Bahn und kehrt mit erstaunlicher Frische zurück."
"Kill Bill". Eine Frau zersäbelt ihre Peiniger. Rachegeschichten sind bis heute das vielleicht populärste Sujet nach der Liebe. Und so alt wie unsere Kultur. Troja. Achilles betrauert den getöteten Patroklos. Der Verlust entfesselt den grausamen Krieger in ihm. Er tötet den Hektor, schändet den Leichnam. Alles Archaik? Alles Fiktion?
Das Gesetz spricht Recht, Rache will Gerechtigkeit
"Die Moderne erzählt sich im Grunde eine Geschichte über sich selbst, die darauf beruht, die Rache überwunden zu haben", sagt der Philosoph Fabian Bernhardt. "Und durch das Recht ersetzt zu haben. Und diese Erzählung ist ganz stark gebunden an die Herausbildung des modernen Staates mit dem Gewaltmonopol. Im Zuge dessen wurde die Rache im Grunde ausgesondert."
1981. Ein Gerichtssaal in Lübeck. Marianne Bachmeier tritt dem Mörder ihrer Tochter gegenüber und erschießt ihn. Wo das Gesetz nur Recht spricht, will die Rache Gerechtigkeit. Ein spektakulärer Fall von Selbstjustiz, von Bachmeier minutiös geplant. Vollzogen nicht im Geheimen, sondern auf der Bühne der Justiz.
"Es war ein öffentliches Signal und hat Entsetzen und wenn Sie sich genau vergewissern sogar Respekt oder Bewunderung ausgelöst", sagt Wertheimer. "Und eben diese Ambivalenz, die finden wir bei der Rache ganz häufig", sagt Bernhardt. "Einerseits ist es ein Motiv, das nachvollziehbar ist. Umgekehrt ist es eben ein Motiv, das eigentlich nicht mehr legitim ist. Und diese Ambivalenz macht sich die politische Rhetorik auch häufig zunutze."
Rache verüben immer die anderen
Ein ungeschriebenes Gesetz im Jargon des Westens lautet: Rache verüben immer die anderen. Sie ist ein Akt der Barbarei, präzivilisatorisch. Der Vernünftige übt Vergeltung. Tatsächlich gilt auch in der Politik: Ab einem gewissen Grad der Verletzung ist eine allein nüchterne Reaktion kaum möglich. Doch mischt sich die Logik der Rache erst mit der des Krieges, wird es fatal.
"Die Rache ist ja nicht nur der kalte Schuss oder Stoß, sondern auch die Zerstörung des Gegners, die Zerstörung, nicht nur die Tötung", sagt der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer. "Man muss es bis zum Ende durchführen. Und alle müssen sehen, dass man diese Entschlusskraft hat. Das erklärt für mich auch diese perversen Aktivitäten der letzten Zeit, dass Tote noch weiter geschändet werden."
Rache ist Kampf von Recht gegen Recht
Die Dialektik der Rache besagt: Jeder Akt erfordert eine Antwort, die noch grausamer ist als das erlittene Leid. Aus Opfer wird Täter wird Opfer wird Täter. Und Stück für Stück erodieren Empathie und Augenmaß. Die Wunde wird Narrativ, der Konflikt Identität.
"Es sind immer Verhältnisse toxischer Intimität", sagt Wertheimer. "Bei jedem elaborierten Racheakt ist es ein Kampf von Recht gegen Recht. Es ist nicht Recht gegen Unrecht und es nützt nicht, die einen Terroristen und die anderen Demokraten zu nennen. Das subjektive Empfinden ist anders. Das heißt, wenn zwei Parteien, die sich beide im Recht wähnen, gegeneinander antreten, dann helfen keine moralischen Appelle ans Innere, sondern es muss tatsächlich eine dritte Kraft ins Spiel kommen."
Ist Rache wie Gold und rostet nicht?
Die antike Rachesaga konnte nur sie beenden: Athene. Dea Ex Machina. Ihr Dekret: Amnesie. Nur kollektives Vergessen vermöge das Rad einer tiefen Rache zu brechen. Ein naiver Wunsch? "Auf Netflix läuft gerade eine Serie 'Blue eye Samurai', ein Anime, relativ gut gemacht", sagt Philosoph Fabian Bernhardt. "Da heißt es: 'Rache ist wie Gold, sie rostet nicht.' Das klingt erstmal total gut. Aber ich glaube, das ist falsch. Man muss das auch die ganze Zeit polieren, damit es glänzend bleibt."
Rache heißt: Mit Schmerz vom Schmerz erzählen, vom tiefen Paradox ein Mensch zu sein.
BUCHTIPP
Fabian Bernhardt: "Rache - Über einen blinden Fleck der Moderne", Matthes & Seitz Berlin
Autor: Maximilian Sippenauer
Stand: 19.11.2023 21:36 Uhr
Kommentare