So., 18.08.24 | 23:50 Uhr
Jens Balzers Essay „After Woke“
Warum die Wokeness nach dem 7. Oktober einen Neuanfang braucht
Bankrotterklärungen von Linken
Der Terrorangriff der Hamas auf das Supernova-Festival am 7. Oktober zielte auf jüdisches Leben – und den Staat Israel. Aber es war auch eine Attacke auf die Freiheit, die die jungen Menschen auf dem Rave feiern wollten. Auf die Werte der Humanität – sagt der Publizist Jens Balzer.
„Das hat, glaube ich, tatsächlich einen starken Symbolcharakter und reiht sich ein in eine Geschichte von islamistischen Anschlägen auf Clubs, auf queere Clubs, auf Konzertsäle. Und ich hätte jetzt insbesondere von den Angehörigen gerade auch so der deutschen, europäischen, westlichen Clubmusik-Szene an der Stelle erwartet, sich dann mit den Opfern zu solidarisieren“, sagt Jens Balzer.
Doch stattdessen: dröhnendes Schweigen in der Clubkultur. Obwohl es doch auch um ihre Werte ging. Und dann, sogar: Hohn von namhaften linken Publizisten. Die Queerfeministin Judith Butler nennt den Terror „bewaffneten Widerstand“. Für den Autor Tariq Ali sind Israelis „Kolonisatoren“. In einem New Yorker Literaturmagazin geht es um die „Schönheit“ des Massakers. Und Najma Sharif findet, Dekolonisierung heiße eben mehr als „Essays schreiben“.
Für Jens Balzer sind all das: Bankrotterklärungen von Linken, die den moralischen Kompass verloren haben. Ihn hat das erschüttert.
„Dass das alles nicht zuletzt und vor allem von Leuten kam, für die vorher so der Begriff der Wokeness, oder eben auch der der Awareness und der Sensibilität, der gesteigerten Sensibilität für Diskriminierung, für die das ein ganz wichtiger zentraler Punkt ihres Weltbildes gewesen ist“, so Jens Balzer. „Und dass diese Awareness, dass die dann in diesem Fall einfach plötzlich überhaupt keine Rolle mehr spielt. Es gab dieses sehr treffende Wort ‚MeToo except you’re a jew‘ oder ‚Jews don't count.‘“
Das postkoloniale Weltbild in der Kritik
In seinem Essay „After Woke“ analysiert Balzer diese Verirrung von Teilen der Linken. Und meint damit: Anhänger des Queerfeminismus, der Identitätspolitik, des Antirassismus. Im Kern seiner Analyse steht die postkoloniale Theorie – einst angetreten, um eine globale Gesellschaft der Vielen zu schaffen.
„Wenn man das über die letzten 30 Jahre weiterverfolgt, kann man sehen, wie eigentlich das umgeschlagen ist, die Zugewandtheit der Zukunft, dem Hybriden und dem Kreolischen, in so ein Denken der Identität und der Herkunft und der Vergangenheit. Der neue Modebegriff ist: das Indigene. Letztlich wird da jetzt Identität genauso wieder definiert wie bei den Neuen Rechten, bei den Rechtspopulisten – nämlich über Herkunft, Tradition, Scholle, wie man sagt oder durch letztlich eben auch Blut und Boden“, findet Jens Balzer.
Inzwischen gebe es im postkolonialen Weltbild nur noch Schwarze oder weiße Menschen. Opfer oder Täter. Palästinenser gelten als indigenes, kolonisiertes Volk. Israelis und Juden als weiße Kolonialisten. Die tatsächliche ethnische und historische Komplexität im Nahen Osten wird ignoriert. Eine ideologische Verhärtung, sagt Balzer, die schnell in Antisemitismus umschlagen kann. Muss die Wokeness also ganz weg, wie es ihre Kritiker fordern?
„Ich glaube nicht, dass die Wokeness jetzt abgeschafft werden muss“, so der Autor. „Ich wüsste gar nicht, was das heißt. Weil ich glaube, der Kern dessen, wenn man Wokeness richtig versteht, ist doch erst mal nichts anderes als die Frage: Wie können wir Debatten so führen in einer liberalen, freien Gesellschaft, dass alle Menschen gleichermaßen zu Wort kommen und hörbar und sichtbar werden?“
Der offene Diskurs sei der woken Bewegung selbst aber längst abhandengekommen. In der Clubkultur ist das derzeit gut zu beobachten. Statt Dialog herrscht hier: gegenseitiger Boykott.
Jüngstes Beispiel: Das Techno-Festival Fusion. Kurz nach dem 7. Oktober hatte sich die Festival-Leitung in einem Statement zum Existenzrecht Israels bekannt. Eine propalästinensische Organisation rief daraufhin zum Boykott auf. Die Festivalleitung ruderte zurück. Kurz zuvor boykottierte die Strike Germany-Kampagne Kulturinstitutionen – um die deutsche Israel-Politik zu kritisieren. Ein toxisches Klima an Orten, die doch eigentlich Safe Spaces sein wollen. Orte der Gemeinschaft.
„Das Einzige, was diese ganzen Boykottkampagnen erreichen werden, ist eine nachhaltige Schädigung der linken, progressiven, postkolonialen, queerfeministischen Infrastruktur. Das ist gerade für die Clubkultur als Ort einer künstlerischen, aber auch individuellen und subjektiven Freiheit wirklich ein kompletter Konkurs“, sagt Balzer.
Wokeness braucht einen Neustart
Tragisch sei die Krise woker Bewegungen auch deshalb, weil ihre eigentlichen Anliegen – soziale Gerechtigkeit und Teilhabe – noch immer drängen. Balzer sagt deshalb: Wir müssen die Wokeness retten! Vor ihren falschen Freundinnen und Freunden.
Aber auch: vor ihren Feinden. Rechte und autoritäre Kräfte, die die Anti-Wokeness zum Teil ihrer Programmatik gemacht haben – und „woke“ zum Schimpfwort: Donald Trump: „You know what woke means? It means you’re a loser. Everything woke turns to shit, okay?“
„Ganz viele Angriffe von rechts zielen ja darauf, zu sagen: Das kann jetzt alles weg, weil das sind ja eh alles, wie wir gesehen haben, Antisemiten und damit hat sich der Rest auch erledigt. Das glaube ich nicht,“ sagt der Autor. „Aber ich glaube tatsächlich nur, wenn sich die progressive woke Szene wieder so weit berappelt, dass sie einen positiven Begriff von Wokeness auch zu formulieren versteht, nur dann kann man jedenfalls denjenigen konservativen Kritikern, die das jetzt gerade alles abräumen wollen, so weit entgegentreten, dass man denen klar macht: Wenn ihr das, was ihr hier vorhabt, wirklich mit aller Konsequenz tut, dann räumt ihr nichts anderes ab als das Projekt der liberalen Demokratie.“
Das Versprechen der liberalen Demokratie ist nämlich: gleiche Rechte für alle, in Freiheit und Sicherheit. Und genau das ist auch der ursprüngliche Gedanke von Wokeness. Ihn gilt es zu verteidigen gegen jedes identitäre Denken.
Bericht: Jella Mehringer
Jens Balzer: „After Woke“, Matthes & Seitz Berlin, 105 Seiten, Taschenbuch 12,00 Euro.
Stand: 18.08.2024 20:37 Uhr
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