So., 20.10.24 | 23:35 Uhr
Das Erste
Der Ehrengast Italien
Statt Dolce Vita politische Einflussnahme auf Literatur, Medien und Kultur?
Italienische Identitätskrise: Mythen und Realität
Italien, Du Sehnsuchtsland.
„Es ist nicht das „Dolce-Vita-Land“. Es ist nicht das Land, wie du es im Urlaub erlebst. Oft macht die Schönheit dieses Landes uns blind für die totale Unordnung“, sagt Roberto Saviano.
„Italien ist gespalten, unterteilt in Klassen. In Norden und Süden“, sagt Igiaba Scego.
„Das Land steckt in einer Identitätskrise. Die Italiener wissen nicht mehr, wer sie sind“, meint Alberto Grandi.
Alberto Grandi und der Mythos der italienischen Küche
Unter der postfaschistischen Meloni-Regierung sollen nationale Mythen zur Selbstvergewisserung herhalten. Ein Beispiel: „die traditionelle italienische Küche“.
In Parma treffen wir Alberto Grandi, der ein Buch geschrieben hat, das für Streit und Anfeindungen sorgte. Seine Forschungen ergaben, dass Pizza, Parmesan, Prosciutto und andere Klassiker gar nicht so italienisch und so traditionell sind.
„Zum Beispiel ist die Carbonara ein amerikanisches Rezept, das in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, mit Zutaten, die amerikanische Soldaten mitgebracht haben. Es ist wie ein amerikanisches Frühstück mit Pasta. Doch inzwischen ist Carbonara zu einer Religion geworden, und wenn du heute so etwas sagst, gibt es Leute, die ausrasten“, so Alberto Grandi.
Für solch reichhaltiges Essen war Italien früher viel zu arm, viele litten Hunger und wanderten in die USA aus. Mit neuen Lebensmitteln und Gerichten kamen sie zurück. Die „italienische Küche“ – sei eine erfundene Tradition, sagt Grandi und provoziert damit einen Kulturkampf.
„In Italien ist die Küche das stärkste identitätsstiftende Element. Nur in einem Land wie diesem löst das solche Reaktionen aus. Das ist das Symptom eines viel grundlegenderen Problems dieses Landes, nämlich, dass die Italiener nicht mehr wissen, was sie sind. Sie glauben nicht mehr an die Zukunft, es gibt viel Misstrauen. Italien hat zudem ein riesiges demographisches Problem. Es wächst nicht mehr und sagt den jungen Leuten: Haut lieber ab! Das kann nicht die Lösung für ein Land wie Italien sein, das eine Industrie- und Entwicklungspolitik bräuchte, eine moderne Energiepolitik. Die Minister intervenieren, wenn ein Universitätsprofessor sagt, dass die Carbonara amerikanisch ist, dann drehen sie durch, doch niemand kümmert sich um die eigentlichen Probleme“, erklärt Alberto Grandi.
Die werden unter Nationalismus versteckt. Seit ihrem Amtsantritt wirbt die Ultrarechte für alles, was ‚made in italy‘ ist. Jetzt will die Regierung die Landesküche zum Weltkulturerbe erklären lassen. Als Erfolgserzählung einer großen Nation.
„Italien hat wahrscheinlich seit mindestens fünfzig Jahren ein großes Problem, nämlich dass es die Werte einer modernen, einer industrialisierten Gesellschaft nicht verinnerlicht hat und daher den Mythos aufbauen muss, dass wir Italiener immer in allem besser waren, in Kunst, Kultur und eben auch in der Gastronomie“, meint Alberto Grandi.
Politische Macht und Pressefreiheit unter Giorgia Meloni
In Rom treffen wir den Mafia-Enthüllungsjournalisten, Autor und härtesten Kritiker der Meloni-Regierung: Roberto Saviano. Seit Morddrohungen der Camorra lebt er unter Polizeischutz. Vor kurzem ist sein Roman „Falcone“ erschienen, eine Biographie des sizilianischen Richters und Mafiajägers Giovanni Falcone.
„Italien ist ein Land mit einer mafiösen Veranlagung. Seine Art zu argumentieren, zu handeln, zu kontrollieren, hat dieselbe Struktur. Im Moment ist es die Familie Meloni, die wie eine Bande dieses Land regiert“, erzählt Roberto Saviano.
Wegen solcher Worte wird Saviano immer wieder zur Zielscheibe der Politik. In einer Talkshow übte er Kritik an der Flüchtlingspolitik, bezeichnete Giorgia Meloni und Matteo Salvini als „Bastarde“. Die Ministerpräsidentin zog vor Gericht. Saviano erhielt eine Geldstrafe. Längst ist er zum Symbol für die bedrohte Freiheit italienischer Autoren geworden.
„Giorgia Meloni verwandelt dieses Land in eine Demokratur. Sie bewegt sich im Rahmen der Demokratie, aber im Inneren gibt es autoritäre Züge. Jeder, der die Regierung kritisiert, gilt als Dissident. Einige Personen, ich habe das Pech, dazuzugehören, werden zur Zielscheibe, um alle anderen zu erziehen, um alle anderen einzuschüchtern. Sie sagen also, wir sind ebenbürtig – du greifst uns an, wir greifen dich an. Aber nein! Die politische Macht darf die Einzelperson nicht angreifen, das darf sie nicht!“, findet Roberto Saviano.
Doch sie greift auch die Pressefreiheit an. Letztes Jahr hat der Staatssender RAI Savianos Sendung ‚Insider‘ kurzzeitig eingestellt. Regierungskritische Moderatoren wurden entlassen. Fernsehauftritte Intellektueller, wie der des Faschismus-Experten Antonio Scurati, wurden abgesagt. Von Kritikern wird der Staatssender auch „Tele-Meloni“ genannt.
„Dass die RAI immer von der Regierungsmehrheit dominiert worden ist, ist Fakt. Nur, dass diese Ultrarechte nicht verhandelt. Mit dem, was mir, was mit Antonio Scurati und auch anderen passiert ist, senden sie die Botschaft: Benehmt euch und arbeitet still weiter. Das ist das aktuelle Klima, auch bei den Zeitungen. Hier entscheidet man, ob man die Regierung angreift, danach, ob man es sich leisten kann. Denn Italien ist ein kleines Land in einer großen Wirtschaftskrise. Wenn man heute die Unterstützung der Regierung verliert, verliert man alles. Es gibt kein Geld und das zerstört die Meinungsfreiheit“, erzählt Roberto Saviano.
Begleitet von seiner Eskorte verschwindet Saviano wieder in seinem Versteck. Er fühle sich im eigenen Land nicht mehr sicher.
Migration und Kolonialvergangenheit: Italien als geteilte Gesellschaft
„Mich beunruhigt die Politik, der Journalismus und das Mediensystem in Italien. Denn anstatt Gemeinschaften zu bilden, schaffen sie eine Kluft. Das Problem ist, dass das Narrativ über dieses Land ein weißes Narrativ ist, und viele Menschen werden im Diskurs gar nicht repräsentiert“, sagt Igiaba Scego.
Die Autorin Igiaba Scego ist hier in Rom aufgewachsen. Ihre Eltern stammen aus der ehemaligen italienischen Kolonie Somalia, flüchteten nach dem Militärputsch. Ihr Großvater arbeitete als Dolmetscher für die Kolonialherren. Ihr autofiktiver Roman „Kassandra in Mogadischu“ verwebt die koloniale Vergangenheit mit dem Leben einer Frau, die im heutigen Italien noch immer als die ‚Andere‘ wahrgenommen wird.
„In einem Land, dessen Bevölkerung immer älter wird, sollte Einwanderung nicht als Gefahr, sondern als Möglichkeit, als Chance gesehen werden. Meiner Meinung nach bedeutet also die symbolische Verarbeitung dieser kolonialen Geschichte auch, eine Zukunft zu schaffen, in der wir eine Gemeinschaft sein können. Und heute ist Italien immer noch keine vollständige Gemeinschaft, weil vielen migrantischen Söhnen und Töchtern, deren Eltern hierherkamen, das Recht auf Staatsbürgerschaft verweigert wird“, erzählt Igiaba Scego weiter.
Italien… Ein Land in der Hand einer ultrarechten Regierung, die statt Zukunftskonzepten nur Vergangenheit zu bieten hat.
„Es ist wichtig, dass die europäischen Länder auf Italien schauen, weil sie dort ihre Zukunft sehen werden“, sagt Roberto Saviano.
Beitrag: Celine Schäfer
Stand: 20.10.2024 20:04 Uhr
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