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Anne Applebaum

Die Friedenpreisträgerin warnt vor autoritären Netzwerken und der „Achse der Autokraten“

Anne Applebaum – Die Friedenpreisträgerin  | Video verfügbar bis 20.10.2025 | Bild: hr

Anne Applebaums Friedensbegriff polarisiert

Anne Applebaum stellt sich der europäischen Presse.In einer Zeit, in der unsere Debatten von Krieg beherrscht sind – wollen alle von ihr die Formel für Frieden…

 „Mein Friedensbegriff ist nuancierter. Er unterscheidet sich von Pazifismus“, sagt Anne Applebaum.

Wir haben sie vor einigen Wochen besucht, in ihrem Landhaus in Polen. Gerade hatte sie von ihrer Nominierung erfahren. „Sind Sie sicher?“, hat sie die Jury gefragt. „Das hätte ich nicht erwartet. Ich bin keine Person, die typischerweise Friedenspreise erhält“, erzählt Anne Applebaum.

„Frieden erfordert ständige Wachsamkeit. Wir müssen verstehen, was uns stark macht. Meiner Meinung nach ist das unsere Demokratie, sind das unsere liberalen Werte. Aber nicht jeder teilt die. Und wenn wir sie erhalten wollen, werden wir sie schützen und verteidigen müssen“, so Anne Applebaum weiter.

Ihr Friedensbegriff polarisiert: denn Frieden, findet sie, muss mehr sein als das Ende von Kämpfen. Abschreckung, militärische Fähigkeiten ausbauen sei notwendig zur Selbstverteidigung, das wollte man besonders in Deutschland lange nicht wahrhaben. Applebaum warnte früh vor der imperialen Aggressivität Russlands.

„Als man die russischen Panzer in die Ukraine fahren sah und die Frauen mit kleinen Kindern auf Bahnhöfen – wusste ich, dass es einen Sinneswandel geben würde. Und so war es”, sagt Anne Applebaum.

„Die Einsicht, dass wir nicht auf einem sicheren Kontinent leben, dass es Bedrohungen gibt, die wachsen und dass das wohl heißt, dass Deutschland seine Verteidigung nicht länger an andere Länder, besonders die USA, auslagern kann. Ich habe das Gefühl, dass diese Einsicht in der deutschen Gesellschaft zunimmt. Klar gefällt das nicht jedem. Mir gefällt es auch nicht. Aber es ist Realität“, so Anne Applebaum weiter.

Persönliche Verbindung zu Osteuropa und Kampf gegen den Kommunismus

Anne Applebaum ist Historikerin, Journalistin, renommierte Wissenschaftlerin – sie lehrt in den USA, wo sie geboren ist, und in London. Immer wieder hat sie sich mit Osteuropa und seiner Geschichte beschäftigt.

Ihr Mann ist der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski. Sie haben gemeinsam dafür gekämpft, den Kommunismus zu überwinden, damals vor 35 Jahren, als sie auch dieses Haus kauften.
„Er träumte davon, es zu renovieren und so wieder aufzubauen, wie er sein Land wieder aufbauen wollte“, erzählt Anne Applebaum.

In den 90ern setzten sie sich für Polens Eintritt in EU und Nato ein.
Applebaum versteht sich als konservativ-liberal, ihr persönliches Leben ist tief verwoben mit der sowjetischen Welt. Sie studierte russische Literatur, arbeitete später als Korrespondentin in Warschau.

„Ich habe den Fall des Kommunismus als junge Journalistin miterlebt. Als die Mauer fiel, war ich in Berlin und alle waren so glücklich. Aber dann muss man sich doch fragen, wenn es vorher so eine Katastrophe gewesen ist, so schrecklich. Wie ist es dazu gekommen? Was zieht Menschen zur Autokratie? Warum wollen sie sie? Wie funktioniert Macht in einer Diktatur? Als ich sah, wie es endete, wollte ich wissen, wie es begonnen hatte“, erklärt Anne Applebaum.

Applebaum schreibt internationale Bestseller über die Sowjetisierung Osteuropas. Für ihr Buch über das sowjetische Straflagersystem „Gulag“ bekommt sie 2004 den Pulitzer Preis.

Aufstieg des Populismus und die Gefahr für die Demokratie

2015 kommt in Polen die PiS an die Macht. Applebaums Mann und seine liberal konservative Partei sind plötzlich als „Feinde“ im Visier der Rechtspopulisten.
In ihrem zweiten Heimatland wird bald darauf Trump Präsident. Die Anziehungskraft der Populisten und wie sie die Mitte Rechts Parteien kapern – schockiert sie zutiefst.

„Ich erkannte, dass sich selbst in unseren Demokratien Dinge veränderten und dass einiges, über das ich historisch geschrieben hatte, heute gar nicht mehr so unvorstellbar ist“, sagt Anne Applebaum.

Ihr Buch „Die Achse der Autokraten“

Die Historikerin Anne Applebaum wird zur Analystin der Gegenwart: In ihrem aktuellen Buch schreibt sie über ein neues Zeitalter und seine Akteure: „Die Achse der Autokraten“ – „..die sich gegenseitig an der Macht halten.“

„Es ist ein Netzwerk von Diktaturen, die ideologisch nichts gemeinsam haben, wie das kommunistische China, das nationalistische Russland, der theokratische Iran. Aber sie arbeiten opportunistisch zusammen, wenn es in ihrem Interesse ist. Und sie haben eine Gemeinsamkeit. Und die ist, dass sie uns Demokraten nicht mögen. Sie sehen uns als ein Problem für sie an. Und ich glaube, wir haben noch nicht verstanden, wie sehr sie versuchen, uns zu untergraben“, warnt Anne Applebaum.

Denn unsere Werte: echte Opposition, unabhängige Justiz und freie Medien – bedrohen ihre Macht, sagt Applebaum. Diese zu erhalten - und damit ihren persönlichen Reichtum zu sichern, sei Ziel der Autokraten. Sie helfen sich gegenseitig, westliche Sanktionen zu umgehen und profitieren dabei von unserem Wirtschaftsliberalismus.

„Die Leichtigkeit, mit der Menschen über unsere Banken Geld waschen können, mit der sie Geld verstecken und lagern können. Diese Dinge haben Autokraten geholfen, an die Macht zu kommen. Aber auch, Geld zu stehlen, es zu verstecken und dazu zu verwenden, um an der Macht zu bleiben“, erklärt Anne Applebaum.

Menschenrechte und Völkerrecht gelte für sie nicht. Das habe Russland der Welt mit der Invasion in die Ukraine gezeigt. Russland habe eine Schlüsselrolle im Netzwerk der Autokraten und baue mit China Nachrichtenkanäle auf, um mit Propaganda und Falschinformation die eigene Bevölkerung zu kontrollieren und im Westen Demokratien zu zerstören. 

„Sie sehen sich im Kampf der Ideen mit uns, auch wenn wir nicht glauben, dass wir im Kampf der Ideen mit ihnen sind“, sagt Anne Applebaum weiter.

Ihre Narrative tragen sie auch hinein in unsere Gesellschaften: Zum Beispiel, dass Demokratien im Chaos versinken würden, sich in einer Abwärtsspirale befänden. Parteien, die das unterstützen, helfen Autokraten, so Applebaum.

Auch in Deutschland. Applebaum sieht in der pro-russischen AfD eine große Gefahr. Wenn die demokratischen Gesellschaften gespalten sind, nutze das ihren Feinden.

„Russland hat ein Interesse daran, unsere Gesellschaften zu destabilisieren. Das ist viel billiger, als Waffen zu kaufen und zu kämpfen. Sie würden den Krieg in der Ukraine also lieber dadurch gewinnen, dass sie die Debatte in Deutschland ändern, als sich Kilometer für Kilometer in der Ukraine vorankämpfen zu müsse“, sagt Anne Applebaum.

Aufruf zur Verteidigung der Demokratie

Auch wenn ihre Analyse düster ist: Applebaum ist Optimistin. Dass Veränderung möglich ist, habe der Regierungswechsel in Polen gezeigt.

Demokraten, vereinigt euch! Ist ihr Appell!

„Als Bürger müssen wir uns im öffentlichen Leben engagieren. Das ist ein Weg, um unsere Sicherheit zu gewährleisten, wenn wir gesicherte, fest verwurzelte Demokratien haben. Außerdem müssen wir als Staaten zusammenarbeiten. Und wir müssen über Selbstverteidigung nachdenken und vorbereitet sein. Das ist es, was uns beschützt. Und: was Frieden bringen wird!“, sagt Anne Applebaum.


Beitrag: Katja Deiß

Anne Applebaum: „Die Achse der Autokraten“ (Siedler Verlag), 2024, 208 Seiten, 26 Euro.

Stand: 20.10.2024 20:00 Uhr

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