Sa., 21.03.20 | 16:00 Uhr
Das Erste
Arbeiten nach der inneren Uhr: Immer erst ausschlafen!
Morgens kommt man nicht aus dem Bett, mittags hat man sein Tief, versucht krampfhaft, bei der Arbeit nicht einzuschlafen – und am Abend ist man plötzlich wieder hellwach. Wer das von sich kennt, muss kein arbeitsscheuer Typ sein. Er kann auch einfach nur ein chronobiologischer "Spättyp" sein. Denn in jedem Menschen tickt eine innere Uhr, die vorgibt, ab wann jemand morgens fit und leistungsfähig ist. Die Arbeitswelt nimmt darauf nur selten Rücksicht. Das Experiment eines mittelständisches Unternehmens in Schwaben zeigt aber: Es geht auch anders!
Ein Traum von Arbeit
Ausschlafen, entspannt aufwachen, ohne Wecker – und das an einem ganz normalen Arbeitstag. Dieser Traum ist für zwölf Beschäftigte der Firma Karl Späh im schwäbischen Scheer wahrgeworden. Im Dezember 2018 startete das Familienunternehmen eine firmeninterne Studie. Das Ziel: herauszufinden, wie sich das Arbeiten nach der inneren Uhr auf die Zufriedenheit und Gesundheit der Beschäftigten auswirkt. Diese sind ein halbes Jahr lang erst dann zur Arbeit gekommen, wenn ihre innere Uhr das für richtig hielt. Denn die steuert bei allen Menschen, ab wann sie morgens wach und fit sind. Wir haben zwei Studienteilnehmer begleitet: Selma Sibic und Walter Gauggel.
Nur noch ausgeschlafen zur Arbeit: Ist das betrieblich machbar?
Vor der Studie fing der Arbeitstag für Selma und Walter zwischen sieben und acht Uhr morgens an. Vor allem Walter konnte sich daran nicht gewöhnen. Jeden Morgen war es der gleiche Kampf: nach dem Weckerklingeln bloß nicht wieder einschlafen. Aber kann eine "Gleitzeit de luxe" betrieblich überhaupt funktionieren? Die Firma Späh produziert individuell angefertigte Bauteile und Dichtungen – und dafür müssen alle Abteilungen Hand in Hand arbeiten.
Selma ist für die Beratung und Betreuung von Kunden verantwortlich. Walter kümmert sich um den reibungslosen Ablauf der Produktion – von der Beschaffung der Materialien bis zur Lieferung an den Kunden. Bisher musste er als wichtiger Ansprechpartner spätestens um acht Uhr auf der Arbeit sein.
Schlafmangel schadet der Gesundheit – und kostet viel Geld
Leben Menschen gegen den Rhythmus ihrer inneren Uhr, kann sich das langfristig negativ auf die Gesundheit auswirken: Konzentrationsprobleme, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht, Depressionen und Suchtverhalten können die Folge sein. Neben dem individuellen Leid entstehen so auch erhebliche Kosten für die Unternehmen und die Gesellschaft. Schlafmangel kostet die deutsche Wirtschaft rund 49 Milliarden Euro pro Jahr. Zudem verändert sich die Arbeitswelt. Der jüngeren Generation ist die "Work-Life-Balance" wesentlich wichtiger als den Generationen davor. Auch wird der demografische Wandel zusammen mit der Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre künftig zu einem höheren Anteil an älteren Menschen in den Betrieben führen. Gleichzeitig werden die Anforderungen an ihre Belastbarkeit größer – wegen des zunehmenden Wettbewerbs und der immer schneller werdenden betrieblichen und gesellschaftlichen Prozesse. Auch deshalb sind flexible und für die Beschäftigten "gesunde" Arbeitszeiten wichtig.
Früh- oder Spätaufsteher: Der Chronotyp ist genetisch festgelegt
Die Gesundheitsmanagerin der Firma, Lejla Späh, hat mit dem Unternehmensberater und Experten für Chronobiologie, Michael Wieden, die Studie konzipiert. Zu Beginn wurden Selma, Walter und die anderen Teilnehmenden gesundheitlich durchgecheckt, um organische Gründe für Schlafstörungen auszuschließen. Per Fragebogen wurde dann ermittelt, wie ihre innere Uhr jeweils tickt. Denn es gibt Frühtypen, Normaltypen und Spättypen.
- Die frühen "Lerchen" etwa bauen am Abend schnell ab, sind dafür spätestens um sechs Uhr morgens putzmunter.
- Normaltypen sind etwa 60 Prozent der Deutschen. Sie werden gegen 23 oder 24 Uhr müde und wachen ohne Wecker so ungefähr zwischen sieben und acht Uhr auf.
- Die späten "Eulen" können locker bis neun oder zehn Uhr schlafen, manche sogar bis elf oder zwölf Uhr.
Dementsprechend sind auch die Leistungshochs der jeweiligen Chronotypen sehr unterschiedlich. Der Chronotyp ist genetisch festgelegt und nur schwer zu verändern. Stehen Normal- oder Spättypen um sechs Uhr morgens auf, ist der Körper trotzdem noch auf Schlafen programmiert und wird nur mühsam aktiv.
Das Leben nach der inneren Uhr kann so schön sein
Nach einer Eingewöhnungszeit von etwa drei Wochen – sprich drei Wochen "Wachwerden ohne Wecker" – pendelt sich der individuelle Rhythmus ein. Nach zwei Monaten fühlen sich Selma und Walter ausgeschlafen, fitter und leistungsfähiger. Walter hat sogar am Abend noch Energie, wieder mehr Sport zu treiben. Selma genießt das freiwillige Aufwachen und den entspannten Start in den Tag. Sie stellt außerdem fest, dass sie mehr Schlaf braucht, als gedacht – rund neun Stunden.
Sowohl Selma, als auch Walter sind Normaltypen. Sie beginnen nun später mit der Arbeit, sind aber in der Regel spätestens um neun Uhr morgens an ihrem Arbeitsplatz. Damit die Kunden nicht leiden, sprechen sie sich mit ihren Kollegen und Kolleginnen ab. Die Koordination innerhalb der Abteilungen wird aufwendiger. Wichtige Termine und interne Besprechungen werden etwas später am Tag terminiert – was einfacher geht als gedacht.
Das Aufstehen ohne Wecker erfordert aber auch eine gewisse Selbstdisziplin. Denn unregelmäßige Schlafenzeiten – weil man es zum Beispiel nicht rechtzeitig ins Bett "schafft" – wirken sich negativ auf den Schlaf und die Aufwachzeit aus.
Vorteile für die Beschäftigten – und das Unternehmen
Sechs Monate später präsentiert Michael Wieden die Ergebnisse. Die Studie hat er zusammen mit Prof. Thomas Kantermann vom Institut für Arbeit und Personal der Hochschule Neuss ausgewertet. Das Ergebnis: Alle Teilnehmer schlafen ohne Wecker tatsächlich länger – im Schnitt eine halbe Stunde. Und sie schlafen besser. Zudem gab es keinen "Durchhänger" nach dem Aufstehen. Der Unternehmensberater Michael Wieden sieht darin auch langfristige Vorteile für das Unternehmen. Er geht davon aus, dass sich Fehlzeiten reduzieren lassen und dank des verbesserten Konzentrationsvermögens weniger Fehler passieren. Auch haben die Beschäftigten mehr gedanklichen Spielraum, was wiederum die Kreativität fördert.
Das überzeugt auch die Chefin, Sandra Späh. Sie erweitert in allen Bereichen die Gleitzeit, sodass die Beschäftigten eine große Zeitspanne für ihren Arbeitsbeginn haben. Dank des Projekts gibt es nun mehr Akzeptanz für einen späteren Arbeitsbeginn: Niemand wird in dem Familienunternehmen als "faul" angesehen, nur weil er später zur Arbeit kommt.
Zwar müssen die Absprachen untereinander nun intensiver sein – wegen der unterschiedlichen Anfangszeiten. Doch das lohnt sich. Denn hellwach arbeitet es sich einfach besser.
Autorin: Anja Galonska (hr)
Stand: 20.03.2020 13:41 Uhr