So., 24.02.08 | 17:03 Uhr
Das Erste
Die Mangellüge
Es sind immer wieder die gleichen Fernsehbilder: Landwirtschaft im großen Stil. Endlose Getreidefelder. Riesige Monokulturen. Schädlingen wird mit Chemie zu Leibe gerückt. Schließlich müssen die Erträge stimmen: Obst und Gemüse sind Massenware.
Hochgezüchtet, früh geerntet und aus aller Herren Länder – so haben die frischen Lebensmittel auch in unseren Läden das ganze Jahr über Saison. Aber wie frisch sind sie wirklich? Und: kann das noch gesund sein?
Gemüse ist generell gesund
"Gemüse an sich ist auf jeden Fall ein gesundes Nahrungsmittel. Da kommt auch das Vorurteil nicht dagegen an, dass unsere Nahrungsproduktion keine besonders guten Obst- und Gemüsesorten zur Verfügung stellen kann", ist sich der Ernährungsmediziner Professor Stephan Bischoff sicher. "Ich glaube, man muss da im Kopf behalten: wie es schmeckt und was drin ist muss nicht immer das Gleiche sein. Manchmal würde ich mir wünschen, dass der Geschmack ein bisschen besser wäre. Aber ich habe keine Zweifel, dass die notwendigen Inhaltsstoffe schon enthalten sind."
Vitaminschwund durch ausgelaugte Böden?
Doch was ist dran an den Gerüchten von den ausgelaugten Böden und dem immensen Vitaminschwund in unserem Obst und Gemüse? Vor allem im Internet halten sich solche Botschaften hartnäckig. Von Vitaminverlusten bis zu 80 Prozent ist da die Rede.
"Ich denke, es gibt bestimmte Interessengruppen, die genau an solchen Aussagen ein großes Interesse haben", kontert der Ernährungswissenschaftler Dr. Bernhard Watzl, "mit dem Hintergrund, dass Supplemente [Anm. der Red.: Nahrungsmittelergänzungsmittel], die auf dem Markt angeboten werden - bestimmte Konzentrate aus Obst und Gemüse - dass die angeblich die minderwertige Qualität von Obst und Gemüse kompensieren."
Natürliche Konzentrations-Schwankungen
An der Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe werden die Inhaltsstoffe von Obst und Gemüse bestimmt. Außerdem wird ihre Wirkung auf unsere Gesundheit untersucht. Und das schon seit Jahrzehnten. Das Ergebnis: Von einem dramatischen Vitaminschwund in unserem Obst und Gemüse keine Spur.
Selbst ein wässriger Geschmack bedeutet nicht weniger Vitamine, so Dr. Bernhard Watzl: "Es gibt natürlicherweise Schwankungen im Vitamingehalt. Wir haben unterschiedliche Quellen. Zum Beispiel ein Apfel - der kann aus unterschiedlichen Ländern kommen, aus unterschiedlichen Regionen. Jahreszeitlich gibt es Schwankungen beim Vitamingehalt. Aber diese Schwankungen bewegen sich in einem Bereich, der jetzt ernährungsphysiologisch, das heißt von der gesundheitlichen Bewertung her, absolut unbedeutend ist."
Auch die Sorte eines Apfels, um bei diesem Beispiel zu bleiben, beeinflusst den Vitamingehalt. Das ist bekannt. Aber selbst die Äpfel an ein und demselben Baum können unterschiedlich viel Vitamin enthalten.
Mehr Vitamine bei tierischen Lebensmitteln
Nebenbei versorgen uns auch tierische Lebensmittel mit Vitaminen. Dort hat der Gehalt in den letzten Jahre sogar deutlich zugenommen - ein typisches Problem der Massentierhaltung. Denn die Tiere werden mit speziellem Vitaminfutter versorgt. Und auch bei der industriellen Verarbeitung werden Tierprodukte zusätzlich mit Vitaminen behandelt. Zum Beispiel zur Haltbarmachung.
Ausgewogene Ernährung im Alltag
Ernährungswissenschaftler sind sich einig: eine ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung liefert alle nötigen Vitamine in ausreichender Menge. Die Empfehlungen, wie solch eine Ernährung aussehen sollte, kennen wir alle. Doch genau da liegt das Problem: Denn in der Alltagshektik stillen wir den Hunger allzu oft mit Kantinenessen und Fast Food. Zu den schlechten Eßgewohnheiten gesellt sich bei vielen das schlechte Gewissen. Die Sorge vor einem Vitaminmangel wächst.
Analyse-Methoden
Doch müssen wir diesen Vitaminmangel wirklich fürchten, in einem Land und einer Zeit, in der wir alle Lebensmittel im Überfluss haben? An der Universität Hohenheim haben die Forscher unseren Vitaminstatus im Visier. Sind wir mit dem was wir essen wirklich so mangelhaft versorgt?
Untersuchungsmöglichkeiten gibt es viele. Blutproben bieten da nur einen kleinen Einblick. Ausführliche Ernährungsprotokolle geben Aufschluss über die Essgewohnheiten der Probanden. Bei einer weiteren Untersuchung werden ihnen mit einem Wattestäbchen Zellen der Wangenschleimhaut entnommen. Mit einem speziellen Testverfahren kann damit der Vitamingehalt in den Körperzellen bestimmt werden.
Das Ergebnis: Die Wissenschaftler geben Entwarnung. Bei unseren Lebensmitteln besteht für einen gesunden Erwachsenen kaum ein Mangelrisiko. Selbst wenn unsere Essgewohnheiten besser sein könnten, sagt Prof. Bischoff: "Da könnte es natürlich schon ’mal sein, dass man in Phasen gerät, in denen die Zufuhr zu gering ist. Aber das heißt noch lange nicht, dass gleich ein Schaden entsteht.
Da die Vitamine so wichtig sind fürs Überleben, hat die Natur uns mit vielen Reserven ausgestattet. Beispielsweise haben wir für die meisten Vitamine die Möglichkeit zu speichern, das heißt Vorräte anzulegen für Zeiten, in denen wir vielleicht nicht so konsequent auf die Vitaminzufuhr achten. Also das Kind fällt nicht gleich in den Brunnen, wenn man ’mal vorübergehend etwas sündigt."
Raubbau am Körper
Die Frage ist nur: wie lange dürfen wir sündigen? Unser Körper hat zwar sehr effektive Überlebensstrategien, aber eine schlechte Vitaminversorgung schwächt auch die Abwehrkräfte. Wer lange Zeit mit seinem Ernährungsgewohnheiten Raubbau am Körper treibt, kann nicht gesund bleiben. Oder?
Prof. Stephan Bischoff versucht eine Antwort: "Das ist jetzt Hypothese, aber grundsätzlich gibt’s natürlich schon ein paar Hinweise, die einen vermuten lassen, dass - wenn Mangel über viele Jahre besteht - Alterserkrankungen, die uns alle ereilen, vielleicht ein bisschen häufiger und ein bisschen schneller auftreten können. Das wäre eine denkbare Sache, die muss man, ich will mal sagen: im Hinterkopf behalten."
Nahrungsergänzungsmittel sinnvoll?
Auch Hypothesen lassen sich gut vermarkten. Nahrungsergänzungsmittel gibt es im Überfluss. Ein Milliardengeschäft. Die Hersteller versprechen den Tagesbedarf an Vitaminen und Mineralien leicht und effektiv zu decken. Gesundheit hochkonzentriert?
Bestimmt nicht, ist sich Dr. Bernhard Waztl sicher: "Für den normalen Verbraucher ist es in keinster Weise so, dass eine unzureichende Ernährung allein über die Vitaminsupplemente zu einer gesunden Ernährung verändert werden könnte. Weil wir in Obst und Gemüse nicht nur viele Mineralstoffe haben, sondern wir kriegen da ein weiteres Spektrum an den so genannten sekundären Pflanzenstoffen, die für die Gesundheit eine ganz entscheidende Rolle spielen."
Was aus der Natur kommt ist eben doch nicht so schlecht wie es oft dargestellt wird - selbst dann nicht, wenn die Landwirtschaft Massenware liefert.
Autor: Andrea Wengel
Stand: 11.05.2012 13:01 Uhr