So., 09.03.08 | 17:03 Uhr
Das Erste
Stretching
Der nördlichste Handballverein Deutschlands, die SG Flensburg Handewitt schwört auf Dänen in ihrem Kader.
Aber Dehnen oder "Stretching", wie es bei der SG verwechslungsfrei heißt, ist dort nicht so angesagt.
Dänen dehnen nicht
Dabei gehört die körperliche Belastung beim Handball zu den härtesten Herausforderungen für Muskeln, Bänder und Sehnen im Profisport. Die Verletzungsgefahr ist groß. Um so wichtiger, dass sich die Spieler optimal vorbereiten.
Der Mannschaftsarzt Hauke Mommsen ist für ihre Gesundheit verantwortlich. Er doziert als Physiotherapeut an der Universität Kiel. Mommsen überlässt es jedem Spieler selbst, ob er dehnt oder nicht. Von den guten dreißig Sportlern machen nur drei bis vier nach dem Aufwärmen leichte Dehnübungen.
Der Rest denkt nicht mal an Stretching. Mannschaftsarzt Hauke Mommsen sieht darin kein Problem: "Es ist wissenschaftlich belegt, dass das Dehnen nicht verletzungsprophylaktisch wirkt, also Verletzungen vorbeugt. Es ist erwiesen dass es auch nicht die Regeneration fördert, dass es auch nicht vor Muskelkater schützt. Es wirkt auch nicht leistungsoptimierend."
Das Gegenteil sei eher der Fall: Einige Untersuchungen zeigten, dass sich verschiedene Leistungen in explosiven Bereichen verschlechtern. Das bedeutet, dass die Muskeln Schnellkraft verlieren und länger brauchen, um zu agieren und reagieren.
Ausgedehnte Wissenslücken
Obwohl die Sportmedizin viele Erkenntnisse über den menschlichen Bewegungsapparat gesammelt hat, beim Thema Dehnen vermehren sich eher die offenen Fragen als die Antworten zu dessen Auswirkungen gefunden werden. Die physiologischen Abläufe in Muskulatur, Bandapparat und Sehnen sind zwar erforscht.
Aber Dehnen sei eine unnatürliche Bewegung. "Wenn man irgend etwas in Länge zieht im Körper, dann ist das nicht nur die Muskulatur die gezogen wird, da sind auch Kapseln, Bänder, das Bindegewebe im Muskel", erläutert Hauke Mommsen, "das sind die neuronalen Strukturen. Das heißt das Nervengewebe." Was beim Dehnen im Körper passiert, darüber gäbe es in der Sportmedizin derzeit keinen Konsens. Man wisse nur, was Dehnen nicht bewirkt, so der Sportmediziner.
Kraft bis in die letzte Faser
Selbst die Wirkung des Dehnens auf den einzelnen Muskel ist nicht restlos geklärt. Fest steht nur, wie diese Kraftpakete grundsätzlich funktionieren: Muskeln bestehen aus einer Vielzahl von Muskelsträngen und die wiederum aus Millionen von Muskelzellen, den sogenannten Myofibrillen. Die Myofibrillen sind in kleine, aneinander gereihte, längliche Kammern unterteilt, sogenannte Sarkomere.
Bei der Muskelanspannung schieben sich winzige Proteinstränge in die Kammern. So als würde ein Pfeifenputzer in ein enges Rohr geschoben. Dort, wo am Pfeifenputzer die weichen Härchen sind, befinden sich an den Proteinsträngen kleine, fühlerartige Köpfchen. Sie sind das Geheimnis der Muskelfunktion.
Was sie in den Kammern tun, das erinnert ein wenig an Tauziehen. Wenn der motorische Nerv das Signal zur Kontraktion sendet, biegen sich kleine Köpfchen und hangeln sich so zu sagen an der Innenwand der röhrenähnlichen Sarkomere voran. Der Muskel wird dicker und verkürzt sich, er zieht sich zusammen.
Wie gefährlich ist das Überdehnen?
Was passiert aber, wenn die Muskelfasern beim Dehnen über das Maß der normalen Erschlaffung auseinander gezogen werden? Die Wissenschaft ist sich noch nicht einig. Manche Forscher vermuten, dass das Dehnen zu winzigen Verletzungen führt, die den Muskelkater sogar noch fördern können statt ihn, wie man lange glaubte, zu verhindern.
Körper wird beweglicher
Ganz unsinnig ist das Dehnen trotzdem nicht. Zwar lassen sich positive Auswirkungen auf Regeneration, Verletzungsprophylaxe oder drohenden Muskelkater nicht nachweisen. Aber eine Wirkung hat das Dehnen unbestritten: Es fördert die Gelenkigkeit. Ein Forschungsüberblick, den ein Student von Prof. Mommsen erstellt hat, zeigt: "Die Anwendung aller untersuchter Dehnmethoden, brachte eine Vergrößerung der Beweglichkeit." Dieser Effekt trat immer ein, egal welche Form der Dehnung angewandt wurde. Dabei ist selbst in der Sportwissenschaft umstritten, welche Dehnmethode die beste sei.
Auch bei den Flensburger Handballern wird das unterschiedlich gehandhabt. Mannschaftsarzt Mommsen überlässt seinen Sportlern nicht nur ob, sondern auch wie sie dehnen. Den ein richtiges oder falsches Dehnen gäbe es nicht: "…Es gibt ja so unendlich viele Möglichkeiten sich zu dehnen, die auch in der Literatur beschrieben sind, von statisch, dynamisch, aktiv, passiv, vorher anspannen, nicht anspannen", so der Mannschaftsarzt. Er glaubt, dass da noch ein reger Diskussionsbedarf herrsche. Wichtig sei aber, dass die Dehnübungen nicht schmerzhaft sein dürften: "Und man muss vorher wissen, ob die Struktur die man dehnen will verletzt war oder gefährdet ist. Das heißt gerade bei verletzten Sportlern muss man das genau absprechen, in wieweit das Sinn macht."
Höhrere Verletzungsgefahr?
Beweglichkeit allein verhindert keine Sportverletzungen. Wie also schützt ein Mannschaftsarzt seine Spieler, womit lässt sich der Körper gegen die Folgen von Fouls am besten wappnen? Dicke Muskelpakete sind zwar ein Schutz. Aber der alleine reicht nicht. Gerade Rumpf und Wurfarm sind bei Handballern besonders gefährdet.
Wird der Arm zum Beispiel durch den Gegner abrupt gestoppt oder gar verdreht, kann die Schulter ausgekugelt werden. Den Schaden an Muskulatur und Bandapparat kann auch regelmäßiges Dehnen nicht verhindern. Mannschaftsarzt Mommsen setzt deshalb auf das Prinzip "Chaos und Instabilität".
Geschicklichkeitsübungen
Auf einem wackligen, luftgefüllten Sitzkissen am Rand der Trainingshalle sitzt Rückraumspieler Sebastian Schneider und versucht, das Gleichgewicht zu halten. Arme und Beine sind in der Luft. Er spannt nahezu alle Muskeln im Wechsel an, denn er muss sich ständig neu stabilisieren. Dann bekommt Sebastian auch noch Bälle zugeworfen, die er fangen und returnieren muss ohne dabei den Boden zu berühren.
Was aussieht, wie Kinderturnen ist eine höchst effektive Gefahrenabwehr:
Denn es werden nicht nur alle Partien der Rumpfmuskulatur gekräftigt. Gleichzeitig trainiert das zentrale Nervensystem Ausweichbewegungen für unvorhersehbare Situationen mit hohem Verletzungsrisiko. Es legt sozusagen einen motorischen Vokabelschatz für den Ernstfall an. Und diese Ausweichbewegungen kann der Körper bei Stürzen, Kollisionen oder anderen verletzungsträchtigen Situationen blitzschnell abrufen.
Diese Übungen sind jedoch keineswegs nur auf den Leistungssport fixiert – auch Breitensportler benötigen ein Training dieser motorischen Muster, unterstreicht Mommsen: "Im Prinzip benötigt jede Sportart, insbesondere jede Ballsportart, auch eine Stabilität im Rumpf. Und zwar eine Stabilität wo der Körper reagieren muss auf äußere Reize. Deswegen ist das ohne Weiteres auch übertragbar auf andere Sportarten. Für einen Fußballspieler wäre das genauso. Der müsste dann vielleicht mehr mit dem Kopf machen, also die Bälle köpfen. Für einen Tennisspieler wäre es genauso der hätte dann einen Schläger in der Hand."
Zittern für die Feinmotorik
Dieses sogenannte sensomotorische Training lässt sich noch steigern. Der Mannschaftsarzt schickt seine Handballer auf ein tückisches Gerät: Es sieht aus wie ein Laufstall mit Geländern an drei Seiten. Knapp über dem Boden schwebt eine Standfläche die an Gummis aufgehängt ist. Der Spieler muss darauf das Gleichgewicht halten. Jedes noch so kleine Zittern schaukelt sich schnell größeren Schwingungen auf.
Spieler Sebastian Schneider muss balancieren, während ihm wieder Bälle zugeworfen werden. Zusätzlich übernimmt Prof. Mommsen die Rolle des Gegners, indem er den Sportler auf dem Gerät leicht schubst und anrempelt: „Hier kann man die Reize verändern. Man kann ihn auch am Kopf halten. Auch das machen Gegenspieler. Das heißt, wir ahmen hier sportartspezifisch das nach, was er benötigt. Und dann ist er geschützt. Wenn er darauf reagieren kann.“
Ausgedehntes Training
In der Halle geht die Trainingseinheit zu Ende – trotz Körpereinsatz ohne Verletzungen. Der Mannschaftsarzt empfiehlt den Spielern anschließend lockeres Auslaufen. Die Muskeln sind nach der Belastung übersäuert. Durch leichte Bewegung erholen sie sich am schnellsten. Danach dehnen einige Spieler doch noch. Auch wenn das nicht vor Verletzungen oder Muskelkater schützt. Es erhöht immerhin die Gelenkigkeit. Und die können harte Handballer aus dem hohen Norden gut gebrauchen.
Autor: Björn Platz
Bearbeitung: Sebastian M. Krämer
Stand: 13.02.2013 15:19 Uhr