So., 29.03.09 | 17:03 Uhr
Das Erste
Das Milchtrink-Gen
Mutierte Milchtrinker
1999. Im hessischen Nieder-Mörlen stoßen Archäologen auf ein besonderes Grab. Die menschlichen Überreste, die sie bergen, sind 7.500 Jahre alt. Außerdem entdecken sie Rinderknochen und Tierskulpturen, die beweisen: Die Menschen aus Nieder-Mörlen gehörten zu Deutschlands frühesten Bauern und Viehzüchtern. Spuren an den Knochen zeigen: Die jungsteinzeitlichen Siedler aßen das Fleisch und Knochenmark ihrer Rinder. Doch tranken diese Menschen auch schon die Milch ihrer Kühe?
Knochenfunde geben Antwort
Die Antwort auf diese Frage sollen Knochenfunde wie der aus Nieder-Mörlen geben. Genauer: die DNA, die oft auch nach über 7.000 Jahren noch im Knochengewebe steckt.
Der Mehrzahl der auf der Erde lebenden Menschen bekommt Kuhmilch nicht. Sie können den enthaltenen Milchzucker, die Laktose, nicht verdauen. Bakterien zersetzen sie stattdessen im Darm, die Folge: Bauchweh und Koliken. Anders in Mittel- und Nordeuropa: Fast 90 Prozent der Menschen hier verfügen über eine Mutation, die bewirkt, dass sie auch nach der Säuglingsphase noch Milch und Milchprodukte vertragen.
Diese Genvariante ist noch relativ jung. Doch wie jung genau? Wie und warum sie sich gerade in Mitteleuropa verbreitet hat, das möchte der Mainzer Anthropologe Prof. Joachim Burger klären. Dafür sucht er in prähistorischen Knochen nach dem entsprechenden Merkmal. Liegt es in der mutierten oder in der ursprünglichen Variante vor? Anders gefragt: Stammen die untersuchten Knochen von einem Milchtrinker oder einem Menschen, dem Frischmilch noch schwer auf den Magen schlagen würde?
Woher stammt die Mutation?
Je mehr jungsteinzeitliche Knochen Joachim Burger zur Genanalyse bekommt, desto genauer wird das Bild, wie sich die Mutation in Europa durchsetzen konnte. "Wir haben den ersten Nachweis der Fähigkeit, Milch zu verdauen, in 7.000 Jahren alten Funden von Bauern aus der mittleren Jungsteinzeit gefunden", berichtet der Anthropologe. "Und jetzt hat sich die Frage gestellt: Haben die Bauern, als sie vor siebeneinhalbtausend Jahren Mitteleuropa besiedelt haben, dieses Merkmal mitgebracht. Und zwar aus Südost-Europa, woher sie ja kamen." Joachim Burger arbeitet mit unterschiedlichen Archäologen zusammen, um an Skelette von diesen frühen Einwanderern zu kommen.
Knochen lassen sich sehr genau datieren
Zum Glück für Joachim Burger sind Funde aus der Jungsteinzeit relativ häufig. Nachdem die ersten Siedler um 5.500 vor unserer Zeit nach Mitteleuropa einwanderten, kam es zu einer regelrechten Blüte dieser frühen Bauernkultur. "Wir finden viele Siedlungen aus dieser Zeit", erklärt die Archäologin Sabine Schade-Lindig vom Hessischen Landesamt für Denkmalpflege. "Mit den Knochen finden wir auch immer wieder Keramik. Diese Keramik ist in der Jungsteinzeit mit Bändern verziert. Diese Bänder sind in die Keramik eingeritzt, und wir können nahezu 25-jahresgenau die Keramik damit datieren." Über diese Alltagsgegenstände können die Archäologen dann auch das Alter der menschlichen Knochen bestimmen, die zu Joachim Burger in die Analyse gehen.
Auf der Spur der DNA
In einem sogenannten Spurenlabor können er und sein Team geringste Spuren prähistorischer DNA aus den Knochenfunden gewinnen, vermehren und analysieren. Das Problem dabei: Je geringer die Menge zu untersuchender DNA, desto größer die Gefahr, dass die Wissenschaftler sie mit ihrem eigenen Genmaterial verunreinigen. Dagegen hilft nur penibelste Sauberkeit: Burgers Mitarbeiter legen sterile Schutzanzüge an. Außerdem Plastikvisiere, die das Gesicht bedecken, bevor sie sich in einem vollklimatisierten, sterilen Labor an alte Knochenproben machen. Sie sägen ein Stück aus dem Knochen, zermahlen es und lösen die enthaltene DNA. Der gesuchte Abschnitt im Erbgut wird per so genannter Polymerase-Kettenreaktion (PCR) vermehrt. Und steht dann bereit für eine Sequenzanalyse des genetischen Codes. Joachim Burger: "Es ist eine ganz einfache Mutation. Das heißt, wenn wir DNA aus dem Knochen isolieren und dann nur an dieser ganz kleinen Stelle im Genom dieses Individuums suchen. Und dann sehen wir: Ist diese Mutation da, oder ist sie nicht da. Und können dann entscheiden: Es ist ein Milchtrinker, oder es ist keiner."
Biologischer und sozialer Vorteil
Das Ergebnis ist erstaunlich. Alle untersuchten frühen Siedler aus der Zeit um 5500 vor unserer Zeit besaßen noch das ursprüngliche, nicht mutierte Gen. Das heißt, sie waren noch keine Milchtrinker. Die Mutation und damit das Milchtrinken muss sich also erst später in Mitteleuropa durchgesetzt haben. Dann aber rasend schnell, wie Joachim Burger erklärt: "Wie kann ein Merkmal von nahezu null auf nahezu Hundert Prozent in so kurzer Zeit sich in der Bevölkerung durchsetzen? Dafür gibt es nur eine Erklärung: Es muss eine starke positive Selektion auf dieses Merkmal gegeben haben. Das heißt Menschen, die über dieses Merkmal verfügten, haben im Durchschnitt mehr Nachkommen erzeugt als Menschen, die es nicht hatten." Das bedeutet, dass Milchbauern mehr Kinder über den Winter gebracht haben müssen. Und dass aus diesem biologischen vielleicht auch ein sozialer Vorteil erwuchs. Es ist denkbar, dass die ersten Milchbauern besonders wohlhabend wurden, und dadurch mehr Nachkommen hatten als diejenigen, die keine Milch produzierten. Dennoch hat es die Forscher überrascht, wie schnell sich das Merkmal in Mittel- und Nordeuropa durchgesetzt hat. Diese Erfolgsgeschichte des Milchtrinkens zeigt, dass evolutionäre Prozesse wesentlich schneller ablaufen können, als man das früher dachte. 7.000 Jahre reichten, um aus den Mittel- und Nordeuropäern eine Kultur von Milchtrinkern zu machen.
Adressen & Links
Informationen des Instituts für Anthropologie der Universität Mainz zu dessen Forschung im Bereich Paläogenetik.
www.uni-mainz.de
LeCHE - europäisches Forschungsprojekt über die Entstehung des Milchtrinkens
www.york.ac.uk
Autor: Frank Nischk
Stand: 05.08.2015 11:19 Uhr