So., 02.08.09 | 17:03 Uhr
Das Erste
Paris im Fahrradfieber
Vèlib in Paris
Immer mehr Menschen ziehen in die Stadt, der Verkehr wird immer dichter – die Städte brauchen dringend neue Verkehrsmodelle. Ein Ansatz: Mietfahrräder.
Damit es bald mehr davon gibt, wird das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung innovative Modellversuche mit Leihfahrrädern in den kommenden Jahren mit zehn Millionen Euro unterstützen. Bewerben können sich Städte und Verkehrsverbünde mit oder ohne private Partner.
Vorbild ist das Projekt Vélib in Paris. Es läuft seit zwei Jahren mit großem Erfolg und ist dabei, den öffentlichen Nahverkehr im größten Ballungsraum Europas gründlich umzukrempeln.
Unabhängig auf zwei Rädern
Den Verkehrsstau nennen die Pariser "Le Bouchon" – der Korken. Und er gehört noch immer zum Alltag im größten Ballungsraum Europas, so wie Rotwein und Baguette. Zumindest für die, die noch mit dem Auto fahren. Aber das werden weniger und für die anderen gibt es Vélib – eine Mischung aus "Vélo" und "Liberté", das Leihfahrrad für Jedermann. Im Schnitt 70.000 Fahrten am Tag – Tendenz steigend.
Für den Abiturienten Batiste Recamier gehört Velib inzwischen fest zum Alltag. Das Ausleihen ist unkompliziert und billig – bezahlbar mit Bankkarte oder Metropass, es gibt ein Ticket mit Nummerncode und los gehts. Die erste halbe Stunde ist umsonst, das zieht, gerade bei jungen Leuten. "Ja", sagt Batiste, "und gerade abends, wenn es keine Metro mehr gibt und keinen Bus, so gegen Mitternacht oder um ein Uhr morgens, dann nehmen wir das Velib und fahren damit nach Hause."
Gut durchdacht
Aber auch tagsüber will Batiste nicht mehr auf das Stadtfahrrad verzichten. Für kurze Strecken schlägt es Metro und Bus – und das Auto sowieso. Weniger Abgase, dafür mehr Lebensqualität – immer mehr Pariser kommen auf den Geschmack. Durchschnittlich 20 Minuten dauert eine Fahrt mit dem Velib und zusammen fahren die 20.000 Leih-Fahrräder stattliche 300.000 Kilometer am Tag.
Die Stadt hat inzwischen ein Radwegenetz von über 350 Kilometern. Gerade in der Innenstadt verlaufen die meisten Radwege entlang der Busspur. Die Größten mit den Kleinsten, das ist keine Notlösung, sondern hat System. Die breiten Busspuren sind Teil eines umfassenden Verkehrskonzepts, das man im Rathaus schon seit Jahren verfolgt. "Unsere Philosophie ist es, möglichst viele Radfahrer auf die Busspuren zu bringen," sagt Gildas Robert, der Verkehrsbeauftragte der Stadt Paris, "weil sie dort sicherer sind. Denn auf den Busspuren sind ja nur die professionellen Verkehrsteilnehmer unterwegs – Busfahrer und Taxifahrer – und die werden über ihre ganze berufliche Laufbahn geschult... Von ihnen kann man daher viel eher erwarten, dass sie mehr Rücksicht auf die Radfahrer nehmen als andere Verkehrsteilnehmer, die dann doch manchmal abgelenkt sind."
Sicherheit
Schwere Unfälle sind tatsächlich bisher die Ausnahme geblieben. Trotzdem: Radfahren in Paris ist nichts für schwache Nerven. Batiste Recamier hat da so seine Erfahrungen. "Man muss schon aufpassen! Aber inzwischen sind deutlich mehr Fahrräder auf der Straße und die Autofahrer haben sich an uns gewöhnt. Es ist besser geworden, aber man muss trotzdem aufpassen."
Umweltfreundlich und effizient
Finanziert wird das System Vélib übrigens nicht von der Stadt, sondern von einer privaten Firma, die im Gegenzug die städtischen Werbeflächen vermarkten darf. Hinter dem Erfolg steckt eine sinnvolle Infrastruktur. Die Seine zum Beispiel ist der einzige Ort in Paris garantiert ohne Stau. Ein Standortvorteil, den die Strategen von Vélib sich nicht entgehen lassen. Sie betreiben ein eigenes Werkstattschiff. "Wir haben 12 Stationen am Wasser," erklärt Rémi Pheulpin, einer der Entwickler des Projekts. "Dort sammeln wir kaputte Fahrräder ein und deponieren die, die wir repariert haben. Auf die Art sparen wir uns eine ganze Armee von Autos!" Ganz konsequent sind auch die meisten Mechaniker von Vélib mit dem Fahrrad unterwegs. 60 Mitarbeiter kümmern sich um die Instandhaltung der über 1.000 Stationen in der Stadt. Auch kleinere Reparaturen erledigen die Monteure vor Ort. Und alles wird regelmäßig gewaschen – mit Regenwasser aus dem Elektroauto. Und während immer mehr Pariser mit dem Fahrrad fahren, fahren ihre Fahrräder neuerdings öfter mal mit dem Bus – die neuen Spezialbusse füllen leere Stationen auf und sammeln kaputte Fahrräder ein.
Eine wichtige Schaltstelle ist auch das Auskunfts-Zentrum. Fragen zum Tarif, Probleme an den Stationen, demolierte Fahrräder – hier läuft alles zusammen. Jedes einzelne Fahrrad ist registriert. Rémi Pheulpin erinnert sich an die Anfänge des Projekts vor gut zwei Jahren: "Es gab sehr viele Leute, die überhaupt nicht überzeugt waren, dass das Fahrrad ein regelrechtes Verkehrsmittel werden könnte. Aber genau das ist passiert. Viele haben gesagt, das ist doch nur Spielerei, ein bisschen zum Spazierenfahren, aber was wir heute sehen, mit bis zu 100.000 Ausleihen pro Tag, das ist ein echtes Transportmittel..."
Und es klappt erstaunlich gut. Die Pariser jedenfalls sind hochzufrieden – 98 Prozent der Nutzer haben Vélib schon ihren Freuden empfohlen und in den Vororten werden gerade 300 neue Stationen gebaut. Wenn das so weitergeht, hat Paris den Stau bald hinter sich.
Adressen & Links
Die Homepage des Fahrradverleihsystems in Paris, mit Tarifen, Stationen und weiteren Informationen (Französisch):
www.velib.paris.fr
Informationen zum Nationalen Radverkehrsplan gibt es auf einer Website des Bundesministeriums für Verkehr.
www.nationaler-radverkehrsplan.de
Auch in deutschen Städten wird das System mit Leihfahrrädern bereits erfolgreich getetestet, z.B. in Hamburg. Mehr Informationen gibt es auf der Seite des Stadtrads Hamburg:
www.stadtradhamburg.de
Autorin: Kerstin Hoppenhaus (SWR)
Stand: 11.05.2012 13:08 Uhr