So., 21.03.10 | 17:03 Uhr
Das Erste
Sex in der Stimme durch "Hormon-Doping"
Welcher Tenor verführt eine wählerische Vogeldame?
Der Ornithologe sucht den Superstar: Stefan Leitner vom Max Planck Institut im bayerischen Seewiesen untersucht den Gesang von Kanarienvögeln in einer großen Vogelvoliere. Dabei fallen ihm die unterschiedlichen Gesangskünste der bunten Singvögel auf. Manche trällern schneller, höher und länger als andere. Die Weibchen scheinen vor allem auf Silben abzufahren, die schwierig zu singen sind, schnelle Silben im hohen Frequenzbereich, die aus dem Gesang herausstechen. "Sexy Silben" – so haben französische Forscher diese kleinen Arien im Vogelgesang genannt. Stefan Leitner will herausfinden, warum nur manche Vögel diese verführerischen Noten treffen.
Eine Vergleichsgruppe: Die Kaspar-Hauser Vögel
Das Erlernen von Vogelgesang ähnelt dem Erlernen von menschlicher Sprache. Soziale Isolation führt anscheinend sowohl beim Menschen als auch beim Vogel zu einer gestörten Vokalisationsentwicklung. Kinder wie der sagenumwobene Kaspar Hauser, die ohne menschlichen Kontakt aufwachsen, entwickeln nur eine sehr rudimentäre Form der menschlichen Sprache.
Ähnliches geschieht beim Singvogel, wenn man Jungvögel nach dem Schlüpfen von ihren Eltern entfernt und isoliert vom Gesang der Artgenossen aufzieht. Stefan Leitner ließ eine Schar von Jungvögeln ohne erwachsene Kanarienmännchen, aber mit Kontakt zu Gleichaltrigen und Weibchen aufwachsen. Diese Kanarienvögel entwickeln eine Form des arteigenen Gesangs, der allerdings nicht unbedingt attraktiv klingt.
Sexualhormone beeinflussen den Gesang
Aber auch zwischen den Singvögeln mit normalem Familienhintergrund nimmt Stefan Leitner große Unterschiede wahr. Was beeinflusst den Gesang also außerdem? Im fernen Saltford, im Südwesten Englands, am Fluss Avon, ist man der Lösung dieser Frage auf der Spur. Hier forscht ein aufmerksamer Kollege von Stefan Leitner: Carsten Müller. Der Ökologe untersucht künstliche und natürliche Hormone - im Abwasser.
Bei vielen Kläranlagen ist das sogenannte Tropfkörper-Verfahren Standard der biologischen Abwassereinigung: Das Schmutzwasser wird über ein vier Meter tiefes Becken versprüht. Im Becken befinden sich Lavabrocken, an denen Bakterien kleben, die das Wasser reinigen, und die dann von Kleintieren gefressen werden. Ein reich gedeckter Tisch präsentiert sich hier für Vögel: Fürs menschliche Auge kaum sichtbare Würmer, Wasserläuse, Schnecken, Fliegen und kleine Krebse tummeln sich an diesen Lavabrocken in Massen. Leider sind diese Kleintiere aber vollgepumpt mit Hormonen von uns Menschen, vor allem mit weiblichen. Carsten Müller hat die Kleintiere untersucht. In ihnen sammeln sich künstliche und natürliche weibliche Hormone. Hormone aus der Anti-Baby-Pille, aber auch aus der Kunststoffproduktion: Phthalate und Bisphenol A. Bis zur Hälfte ihres Nahrungsbedarfs holen sich Stare, Bachstelzen, Mauersegler, Rauchschwalben und Lachmöwen hier. Die Forscher habe wilde Stare gefangen und ihnen Mehlwürmer gefüttert, denen sie eine ähnliche hohe Konzentration von weiblichen Hormonen gespritzt hatten.
Das Ergebnis: der Gesang dieser Stare veränderte sich! Das Erstaunliche: Sie sangen länger, schneller und ausdauernder. Außerdem hatte sich ihr Gesangsrepertoire vergrößert. Sexualhormone beeinflussen also den Gesang.
Sexy Silben und größere Eier
Stefan Leitner hat das Gehirn dieser Versuchs-Stare analysiert. Ihr Gesangszentrum hatte sich deutlich vergrößert. Dies erklärt, wie die sexy Silben zustande kommen. Wenn Stefan Leitner weiblichen Vögeln diese Silben vorspielt, werden sie paarungsbereit. Aber nicht nur das: Weibliche Kanarienvögel legen größere Eier, wenn die Männchen ihnen komplexe Melodien vorträllern. Die sogenannten sexy Silben veranlassen die Weibchen, mehr Aufwand in die Produktion der Eier zu stecken. Offenbar nehmen sie an, dass es sich lohnt, die Nachkommen ihres Partners großzuziehen, wenn er derart kunstvoll trillern kann. Väter, die nur eintönige Wiederholungen einer Strophe singen können, haben offenbar nach Meinung der Mütter auch sonst nicht viel Gutes an die Jungen weiterzugeben.
Die Singvögel hätten also allen Grund, sich auf den Frühling mit sexy Silben einzustimmen. Doch das Hormondoping zahlt sich für sie nicht aus: Diejenigen, die sich in an den Kläranlagen vollfressen, haben ein viel schwächeres Immunsystem als ihre Artgenossen und werden öfter krank. Von den sexy Noten profitieren sie nur für kurze Zeit. Es ist wohl doch besser, sich nicht mit fremden Federn aufzuplustern, wenn man auf Brautschau geht.
Adressen & Links
Max Planck Institut Seewiesen
Eberhard-Gwinner-Straße, Haus Nr. 6
82319 Seewiesen
Forschungsarbeit von Stefan Leitner und Carsten Müller (engl.): "Pollutants Increase Song Complexity and the Volume of the Brain Area HVC in a Songbird" - Wie sich das Gesangszentrum im Gehirn von Vögeln unter dem Einfluss künstlicher und natürlicher Hormone vergrößert
www.plosone.org
Zusatzinfos
Phthalate
Phthalate sind Weichmacher. Sie machen Kunststoffe biegsam. Chemisch sind sie Verbindungen der Phtalsäure mit verschiedenen Alkoholen. Phthalate finden sich in Bodenbelägen (PVC), Kabeln, Folien, Vinyltapeten, Farben, Lacken, Dichtungen, Kunstleder, Duschvorhängen, Schuhsohlen, Deos und Parfüms. Generell sollte man auf Produkte mit dem Blauen Engel achten - sie enthalten keine gesundheitsschädlichen Weichmacher. Dies gilt hinsichtlich Phthalaten vor allem bei Bodenbelägen, Farben, Lacken und Tapeten.
Bisphenol A
Bisphenol A ist eine Industriechemikalie. Es steckt als Kunststoff-Bestandteil in Gegenständen aus Plastik - beispielsweise in Babyflaschen, Trinkbechern, Plastikgeschirr und in der Innenbeschichtung von Konservendosen. Am sichersten vermeiden Sie Bisphenol A, wenn Sie auf Glas- und Keramikbehälter umsteigen. Als vergleichsweise unschädlich gelten Kunststoffe aus Polyethylen (PE) und Polypropylen (PP).
Autorin: Nicoletta Renz (BR)
Stand: 08.08.2013 09:32 Uhr