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Die Röntgenbrille im OP

Das Bild des Handgelenks in einer Mischung aus Real- und Röntgenbild
Bereits jetzt werden Röntgenbilder während der OP eingesetzt. | Bild: NDR

Im Operationssaal der Chirurgischen Klinik an der Ludwig-Maximilians-Universität München geschieht Sonderbares. Fast könnte man sagen: Übersinnliches. Tupfer, Schere und Skalpell benutzen die Chirurgen hier auch. Doch sie verfügen noch über ein ganz besonderes Instrument: den Röntgenblick. Denn zunächst durchdringt der Chirurg die Haut nicht mit dem Messer: Ein mobiles Röntgengerät kann über den OP-Tisch geschoben werden. Der sogenannte C-Bogen liefert Röntgenbilder vom Patienten vor der Operation – und bei Bedarf auch währenddessen. Zusätzlich ist das Gerät auch mit einer "normalen" Videokamera ausgestattet. Wenn der Chirurg auf den Monitor blickt, sieht er das Bild der Videokamera und der nbildRöntgenaufnahme überlagert. Bei einer OP am Handgelenk beispielsweise sieht der Chirurg den Handwurzelknochen und kann genau darüber die Stelle einzeichnen, wo er schneiden will – denn das Mischbild zeigt gleichzeitig die Hautoberfläche.

Erweiterte Realität im OP – die Röntgenbrille

Chirurg mit Röntgenbild im Versuchslabor
Die Brille soll es dem Chirurgen ermöglichen, dreidimensionale Röntgenbilder zu sehen | Bild: NDR

Doch für das Forschungsteam aus Informatikern der TU München und Chirurgen der Ludwig-Maximilians-Universität ist dieser Röntgenblick nur der Anfang. Schon bald wird der Chirurg im OP nicht mehr nur mit zweidimensionalen Röntgenaufnahmen arbeiten. Dreidimensionale Bilder aus dem Computertomografen oder Kernspin machen seine Perspektive noch realistischer. Mit Hilfe einer speziellen Brille, dem sogenannten Head Mounted Display, kann er direkt in den Körper hineinsehen – und zwar ohne den Blick vom Patienten abzuwenden. Ein Monitor wird überflüssig.

"Erweiterte Realität" heißt dieses Verfahren, weil es das reale Bild um Zusatzinformationen aus dem Computer ergänzt. Mit den so aufbereiteten Informationen soll der Chirurg in der Lage sein, Knochen, Blutgefäße, Organe, Tumore oder gesundes Gewebe beim Blick auf den Patienten unterscheiden zu können. Ein faszinierender Blick – der im wahrsten Sinne unter die Haut geht. "Unser Ziel ist, dass die Chirurgen unsere Technologie irgendwann einmal gar nicht mehr wahrnehmen", so Prof. Nassir Navab, Studienleiter aus dem Fachbereich Medizinische Informatik der TU München. "Sie muss vollkommen in den Operationsprozess integriert und auf den Blick des Chirurgen abgestimmt sein."

Kern der komplexen Technik ist das sogenannte Trackingsystem mit seinen vier Infrarotkameras. Auf Millimeterbruchteile genau muss es die Positionen von Patient und Chirurg während der Operation bestimmen. Und es muss auch erkennen, wo und wie der Chirurg sein Operationsbesteck bewegt. Nur so kann der Computer reales und virtuelles Bild perfekt miteinander abgleichen. Damit kann sich der Chirurg voll und ganz auf die OP konzentrieren – durch das Bild, das ihm die Brille liefert, braucht er seinen Blick auf keinen Monitor mehr richten.

OP-Planung am virtuellen Kopf

Ein Mann, dessen Kopf an einer Stelle "durchleuchtet" ist
Operationen können im Vorfeld genau geplant werden | Bild: NDR

Das Team an der Ludwig-Maximilians-Universität will die Technik auch schon vor der eigentlichen Operation einsetzen: in der Planung. Chirurgen dürfen bei Operationen, zum Beispiel am Gehirn, nur möglichst wenig gesundes Gewebe verletzen. Deshalb suchen und markieren sie mit ihrer Software den bestmöglichen Weg, um etwa einen tief im Gehirn liegenden Tumor zu erreichen.

Mit Hilfe der erweiterten Realität blicken die Chirurgen dabei Schicht um Schicht in den Kopf ihres Patienten hinein. Sie unterscheiden Schädelknochen, Nervenbahnen und Blutgefäße. Dafür genügt Ihnen ein Styroporkopf, auf den die vorher erstellten MRT-Bilder des Patienten projiziert werden. Bisher lassen sich die hierfür notwendigen Daten nur schwer veranschaulichen.

Ein alter Traum wird wahr

Ein Handgelenk auf dem OP-Tisch
Erweiterte Realität im OP - bald Realität | Bild: NDR

Chirurg Dr. Simon Weidert setzt große Hoffnungen in die Nutzung der erweiterten Realität im OP: "Es ist so, dass wir heutzutage schon unheimlich viele Bilddaten von Patienten herstellen, sei es Kernspin, CT oder normales Röntgen, auch Ultraschall. Aber diese ganzen Bilder, die existieren momentan halt in einem Computer drin, oder auf einem Film. Und diese erweiterte Realität gibt uns jetzt die Möglichkeit, diese Daten aus diesem abstrakten Darstellungsformat in die Realität zurückzuziehen und wieder zum Patienten hinzubringen, wo wir sie eigentlich brauchen."

Schon bald soll das System der erweiterten Realität praxistauglich sein. Dann könnte die "Röntgenbrille", das Head Mounted Display, einmal das wichtigste Instrument der Chirurgen werden. Ihre Technologie in die komplexen Abläufe einer Operation zu integrieren, ist derzeit die größte Herausforderung für die Forscher. Ist das einmal geschafft, geht er endlich in Erfüllung: der alte Traum vom Röntgenblick.

Autor: Jochen Becker (NDR)

Stand: 11.05.2012 13:09 Uhr

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