So., 13.03.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Ein Atomkraftwerk im Erdbebengebiet
Die goldene Westküste der USA ist eines der aktivsten Erdbebengebiete der Welt. In Kalifornien treffen die nordamerikanische Kontinentalplatte und die pazifische Platte aufeinander. Ein komplexes Labyrinth aus Spalten und Verwerfungen durchzieht den Untergrund. Immer wieder bebt die Erde – pro Jahr werden über 10.000 Mini-Erdstöße in der Region gemessen. Aber es kommt auch zu schweren Beben: 1906 wurde fast gesamt San Francisco von einem verheerenden Beben zerstört. 1989 erinnerte das Beben von Loma Prieta zuletzt daran, auf welch unruhigem Untergrund Kalifornien liegt. Und die Zukunftsaussichten sind düster: Seismologen und Geologen erwarten das "Big One". Einer aktuellen Studie zufolge liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Beben mit einer Stärke von über 6,7 innerhalb der nächsten 30 Jahre den Küstenstaat heimsuchen wird, bei 99 Prozent. Doch was bedeuten die Prognosen der Wissenschaftler in der Praxis? Wie schwierig das ist, zeigt die Geschichte des Atomkraftwerks Diablo Canyon.
Gute Messungen - böse Überraschungen
Am U.S. Geological Survey in Menlo Park, südlich von San Francisco, laufen die Fäden der US-amerikanischen Erdbebenforschung zusammen. Hier arbeiten hunderte von Wissenschaftlern mit Universitäten und Instituten in dutzenden Forschungsprojekten weltweit zusammen. Ihr Ziel: Sie wollen die Auswirkungen, Risiken und Wahrscheinlichkeiten zukünftiger Erdbeben besser verstehen. Mit immer feineren Messmethoden durchleuchten sie dazu den Erdboden – und erlebend dabei viele Überraschungen. Denn die hoch aufgelösten Datensätze erlauben ihnen, Strukturen zu erkennen, die ihnen bisher verborgen blieben.
Das Atomkraftwerk ist um die Ecke
So machte die Seismologin Dr. Jeanne Hardebeck vor der mittelkalifornischen Küste 2008 eine gruselige Entdeckung. Bei der Untersuchung von Mikrobeben – winzigen Erschütterungen im Erdinneren – stellte sie fest, dass diese stets entlang der gleichen Ebene auftraten. Weitere Untersuchen bestätigten ihren Verdacht: Es handelte sich um eine bis dato unbekannte Erdbebenspalte – 25 Kilometer lang und 15 Kilometer tief. Das Brisante daran: Die Spalte, die die Wissenschaftler "Shoreline-Graben" tauften, verläuft in nur 500 Meter Entfernung an einem Atomkraftwerk vorbei.
Eine Wiederholung der Geschichte
Für das Atomkraftwerk Diablo Canyon bedeuten diese neuen Erkenntnisse die Wiederholung einer alten Geschichte. Als das Kraftwerk in den 1960er Jahren geplant wurde, verließ man sich nur allzu schnell und unkritisch auf ein seismologisches Gutachten, das keinerlei Erdbebengräben in der Nähe bescheinigte. Der Betreiberkonzern Pacific Gas and Electrics ignorierte alle kritischen Stimmen. Bis Seismologen kurz vor Beendigung der Bauarbeiten den Hosgri-Graben entdeckten– eine Erdbebenspalte nur fünf Kilometer von dem Kraftwerk entfernt. Es kam zu den größten Anti-Atomkraft-Protesten in der Geschichte der USA. Die Folge: Das Kraftwerk musste für zweieinhalb Milliarden US Dollar nachgerüstet werden. Kurz vor Inbetriebnahme stellte eine unabhängige Untersuchungskommission dann massive Fehler und Unzulänglichkeiten bei den Umbaumaßnahmen fest: Weitere zwei Milliarden US-Dollar mussten zur Korrektur aufgewendet werden. Am Ende standen jahrelange Verzögerungen und Mehrkosten von fast fünf Milliarden US-Dollar zu Buche. Kosten, die vom Betreiberkonzern auf die Strompreise und somit die Konsumenten abgewälzt wurden.
Laufzeitverlängerung – untragbares Risiko?
David Weisman ist Mitglied einer Allianz aus Bürgern, Geologen und Politikern, die für mehr Transparenz und Sorgfalt seitens des Betreibers Pacific Gas and Electrics kämpft. Für ihn ist der Bau des Atomkraftwerks ein Fehler, der auf Vorsatz und Leichtsinn beruhte und nach der Entdeckung des neuen Grabens nicht noch einmal passieren darf. Denn der Betreiber versucht, trotz offener geologischer Fragen und laufender Untersuchungen, die Laufzeit des Kraftwerks vorzeitig um weitere 20 Jahre zu verlängern. Für Weisman ein Risiko, das zu diesem Zeitpunkt nicht tragbar ist.
Eine Prognose ist schwierig
Laut Betreiber soll das Atomkraftwerk Diablo Canyon durch die Nachrüstung einem Erdbeben bis zu einer Stärke von 7,5 auf der Magnitudenskala widerstehen. Damit ist aber noch nicht geklärt, ob es tatsächlich den Erschütterungen durch den neu entdeckten Shoreline-Graben standhalten könnte. Noch ist unklar, welche Stärke ein Erdbeben an dieser Stelle tatsächlich haben könnte. Der Graben ist zwar vergleichsweise kurz – und die Stärke eines Erdbebens hängt normalerweise mit der Länge des abreißenden Grabens zusammen. Doch die Forscher des U.S. Geological Survey wollen noch keine feste Prognose wagen – zu komplex ist die Situation unter der Erdoberfläche, zu zahlreich die offenen Fragen. Denn die Forscher vermuten Verknüpfungen mit weiteren Gräben. Ein entscheidender Faktor – erst in jüngerer Zeit wurden Erdbeben beobachtet, bei denen kleinere Gräben in einer Art Kettenreaktion gemeinsam ein weitaus größeres Erdbeben auslösten, als es ihre eigene Größe ermöglicht hätte.
Ein Spiel mit Wahrscheinlichkeiten
Am Ende bleiben offene Fragen und ein Spiel mit Wahrscheinlichkeiten. Denn das Atomkraftwerk Diablo Canyon liefert gleichzeitig Strom für über fünf Millionen kalifornische Haushalte und ist ein wichtiger Arbeitgeber in der Region. Die schwierige Frage bleibt: Welches Risiko darf man eingehen, welche Vorsichtsmaßnahmen sind gerechtfertigt? Denn so präzise die Daten und Simulationen der Wissenschaftler auch sein mögen: Wann und wo ein Erdbeben auftreten wird, können sie nicht vorhersagen. Und selbst eine detaillierte Einzelfallanalyse hat ihre blinden Punkte und Unwägbarkeiten. Dass ein Atomkraftwerk direkt am Rande einer Erdbebenspalte eine schlechte Idee ist, dürfte mittlerweile fast allen Beteiligten klar geworden sein. Ob es richtig ist, an dieser Idee noch länger festzuhalten, wird zu einer Entscheidung der kalifornischen Öffentlichkeit werden.
Autor: Krischan Dietmaier (WDR)
Stand: 23.07.2015 11:42 Uhr