So., 08.05.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Fangesänge – mehr als Gegröle!
"Helau, Helau, Helau! Wir sind nur ein Karnevalsverein, Karnevalsverein, Karnevalsverein..." - Nein, es ist nicht Rosenmontag. Es sind Mainz 05-Anhänger, die dieses Fanlied aus voller Kehle singen. 50 Mitglieder des Mainzer Fanclubs "Scheiß Tribüne" sind auf dem Weg nach Dortmund. Die Stimmung im voll besetzten Reisebus ist hervorragend. Ein Lied nach dem anderen wird angestimmt - es gibt schließlich eine Menge und die Mainzer gelten als besonders gesangsfreudig. Und überhaupt: Was wäre ein Fußball-Club ohne die Gesänge seiner Fans? "Mir macht's Spaß", sagt ein besonders lautstarker junger Mann. "Weil ich einfach von ganzem Herzen Mainz 05er bin. Deswegen sing ich die Lieder auch von Herzen mit." Zur Ankunft in Dortmund heißt es dann auch gleich: "Wir singen: Humba humba täterä!" Die Anhänger der Gegner am Stadion singen natürlich auch - aber etwas anderes.
Die vier Stufen des Fangesangs
Vor dem Fußballstation in Dortmund treffen wir auch den Musikwissenschaftler Günther Rötter. Der kennt sich aus mit Fangesängen und hat Folgendes beobachtet: "Die akustischen Äußerungen im Fußballstadion haben eine unterschiedliche Komplexität: Die Primärreaktionen sind Geräusche wie 'Buh!', Stöhnen, Lachen und Schreien." Typischerweise kommen diese Primärreaktionen zum Einsatz, wenn zum Beispiel ein Tor fällt oder die Fans sich lautstark über ein Foul der gegnerischen Mannschaft beschweren. "Auf der zweiten Ebene kommt das rhythmische Klatschen - und dann die Kurzgesänge." Als höchste Stufe gilt das Fanlied mit Strophe und Refrain. Dabei sei es wichtig, dass das Lied musikalisch nicht allzu komplex ist. Vor allem der Refrain muss einen leicht und schnell erlernbaren Text haben. Das sei auch der Grund, weswegen sich Fangesänge nicht "von oben herab" vorherbestimmen lassen, sondern die Fans entscheiden, wann und wie sie mitsingen.
Ursprung im Tierreich?
Nicht immer können Außenstehende die Fangesänge im Detail verstanden. Aber eins ist klar: Es geht darum, akustische Signale in weite Ferne zu tragen. Diese Form der Kommunikation findet sich auch in der Tierwelt. Elefanten zum Beispiel signalisieren ihre Stärke und halten mit tiefen Tönen ihre Gruppe über große Entfernungen zusammen. Vögel dagegen singen ganze Strophen mit wiederholender Tonfolge, um zum Beispiel ihr Revier zu verteidigen - auch das ist ein Aspekt von Fangesängen.
Doch wie hat sich der Gesang im Laufe der Evolution überhaupt entwickelt? Der Primatologe Thomas Geissmann erforscht seit 26 Jahren den Gesang der Gibbons, der zu unseren nächsten Verwandten gehört. "Gesänge sind sehr selten im Säugetierbereich. Nur etwa drei Prozent aller Säugetiere produzieren Gesänge, und davon ist ein guter Teil bei den Primanten zu finden." Gibbons sind dabei die Meister des Gesangs und die einzigen Menschenaffen, die singen können. Dazu kommt, dass sie das Duett beherrschen: Männchen und Weibchen wechseln einander in festgelegter Folge ab. Je länger ein Gibbonpaar zusammen ist, desto besser beherrschen die Partner den gemeinsamen Gesang.
Wie die Gibbons so der Mensch
Da die Gibbons dem Menschen sehr nahe stehen, kann aus der Entwicklung ihres Gesanges auf die Entwicklung des menschlichen Gesanges geschlossen werden: "Gibbongesänge haben sich in der Evolution aus einer Vorform entwickelt, dem so genannten Loud-Call. Da gibt es Parallelen zu den menschlichen Gesängen: Auch sie haben sich aus einer Loud-Call-Form entwickelt", so der Primatologe Thomas Geissmann. Und in der Fankultur sind Überbleibsel vom Loud Call auch zu finden, wie ein Dortmund Fan beweist, indem er zuerst "Zickezacke, zickezacke, BVB!" skandiert, um dann in einen Singsang überzugehen, der anscheinend den Dortmunder Verein BVB huldigt: "Heia heia BVB!"
Für den Primatologen Thomas Geissmann hat der Loud-Call in der Tierwelt in erster Linie eine territoriale Funktion - bei Gruppenbegegnungen oder in Alarmsituationen. Übertragen auf das Aufeinandertreffen von Fangruppen im Fußball geht es auch bei ihnen darum, die Gegner zu übertönen und so die Stärke der eigenen Gruppe zu unterstreichen.
Der entscheidende Unterschied
Damit sich aus den Anfängen des Gesangs ein Chorgesang und unsere heutige Musik entwickeln konnte, mussten die Menschen nur noch ein Element entdecken, sagt der Primatologe Thomas Geissmann: "Das auffälligste Element, dass den menschlichen Gesang von dem Gesang von Primaten, Walen oder Vögeln unterscheidet, ist der Takt - der Beat. Man kann dazu im Rhythmus schreiten, hopsen, schaukeln, was auch immer. Aber es gibt einen festen Rhythmus."
Der Rhythmus sorgt dafür, dass gemeinsames Singen und Musizieren mehrerer Menschen gleichzeitig möglich wird. So erleben sie ein Wir-Gefühl. Das gilt für alle Völker der Erde - und eben auch für Fußballfans: "Die Funktion ist, sich als Gruppe zu erleben und sich als Gruppe stärker zu fühlen. Gleichzeitig demonstriert man der anderen Gruppe diese Stärke auch", so Thomas Geissmann. "Der Sinn ist, sich selber Mut zu machen und den anderen vor dieser toll koordinierten Horde ein bisschen Angst einzujagen." Der Gesang im Stadion ist also nicht nur eine geballte Ladung Emotion, die dem wahren Fan schon mal die Tränen kommen lässt, wenn er "You'll never walk alone" singt - die Fußballhymne schlechthin. Es geht auch darum, mehr zu sein, als man ist.
Autor: Hilmar Liebsch (SWR)
Stand: 20.02.2014 12:09 Uhr