So., 17.04.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Kennen wir uns? Phänomen Gesichtsblindheit
Der Nachbar grüßt nicht zurück. Und das schon zum wiederholten Male. Schnell halten wir so einen augenscheinlich unhöflichen Menschen für arrogant. Aber vielleicht hat der Nachbar uns nur nicht erkannt. Vielleicht leidet er an einer bestimmten Wahrnehmungsstörung, die umgangssprachlich als Gesichtsblindheit bezeichnet wird. Der Fachbegriff dafür lautet Prosopagnosie.
Dabei ist es nicht so, dass Menschen mit Gesichtsblindheit Gesichter tatsächlich anders sehen, erklärt Simone – eine Betroffene: "Wenn ich ein Gesicht betrachte, kann ich das Alter abschätzen, auch Stimmungen und Gefühle. Aber ich kann sie nicht wiedererkennen. Sobald sie aus meinem Blickfeld verschwinden, sind Gesichter für mich ein leeres weißes Feld, an dem ich mich dann nicht mehr orientieren kann."
Gesichtsblindheit: so häufig wie Schreib-Leseschwäche
Das ganze Ausmaß der Wahrnehmungsstörung ist schwer vermittelbar. Simone kann zwar Details wie Augen, Nase und Mund sehen – aber eben nur für diesen einen Moment. Aber wenn beispielsweise der soeben vorgestellte Nachbar oder Arbeitskollege nur Minuten später wieder auftaucht, kann sie ihn nicht wiedererkennen. Für die Betroffenen ist das oft eine große Belastung. Dabei ist diese Wahrnehmungsstörung gar nicht mal so selten: In Deutschland leiden vermutlich knapp zwei Millionen Menschen unter der Erbkrankheit. Das ist immerhin jeder vierzigste – damit tritt die Störung ungefähr so häufig auf wie eine Schreib-Leseschwäche. Trotzdem weiß kaum jemand über Prosopagnosie Bescheid.
Die Diagnose – vor allem wichtig für Kinder
Bis vor etwa fünf Jahren war diese Art der Wahrnehmungsstörung noch kaum erforscht. In der Literatur waren bis dahin nur Einzelfälle veröffentlicht worden. Wie wichtig Aufklärung und Information sind, weiß auch der selbst von der Prosopagnosie betroffene Arzt Thomas Grüter aus Münster. Denn die angeborene Prosopagnosie betrifft ausschließlich die visuelle Verarbeitung der Betroffenen – und hat nichts mit einer Verhaltensstörung zu tun. Denn eine solche wird einigen Prospagnostikern von Unwissenden manchmal unterstellt.
Die betroffenen Erwachsenen führen mehr oder weniger ein ganz normales Leben. Kinder leiden unter der Gesichtsblindheit schon eher – bei ihnen kommt es zum Beispiel vor, dass fälschlicherweise Autismus diagnostiziert wird. Denn im Kindergarten fühlen sie sich manchmal unsicher. Das hat damit zu tun, dass ihnen die anderen Kinder unbekannt vorkommen. Sie wissen einfach nicht, wen sie vor sich haben. Erst, wenn sie einen Spielgefährten an der Stimme erkennen oder die Erzieher sagen, um welches Kind es sich handelt, fällt das Unbehagen von ihnen ab und sie möchten sich am Spiel beteiligen. Wird die Gesichtsblindheit früh diagnostiziert, können Erzieher und Eltern den Kindern helfend zur Seite stehen.
Wenn das Gehirn nicht erkennen kann
Betroffene erkennen ohne Probleme Häuser, Bäume oder Autos wieder, nur eben keine Gesichter. Anscheinend funktioniert das Erkennen von Gesichtern anders als das Erkennen von Objekten. Die Wissenschaft ist allerdings noch ratlos, warum das so ist.
Das Sehen und die folgende Gesichtserkennung findet in bestimmten Hirnarealen statt: Die unteren Hinterhauptslappen an der Rückseite des Gehirns analysieren die äußere Erscheinung des Gesichts. Der vordere Schläfenlappen ordnet diesem Gesicht dann Informationen zu, wie beispielsweise den Namen. In einer hinter dem rechten Ohr gelegenen Gehirnwindung des Schläfenlappens, dem sogenannten Gyrus fusiformis, wird das Gesicht dann erkannt. Und genau dieser Bereich wird bei Gesichtsblinden nicht aktiv.
Möglichkeiten der Diagnose
Thomas Grüter hat mit seiner Frau Martina Grüter – ebenfalls Ärztin – Fragebögen ausgearbeitet, mit denen die angeborene Wahrnehmungsstörung diagnostiziert werden kann. Allerdings: Der erbliche Defekt ist nicht behandelbar. Manchmal wollen Betroffene auch gar nicht wahrhaben, dass sie ihre Mitmenschen eben "anders" erkennen. Das Ärzteehepaar geht aber grundsätzlich davon aus, dass jemand, der von Geburt an keine Gesichter erkennen kann, ganz einfach andere Erkennungsmethoden entwickelt. Das ist auch der Schlüssel zur Diagnose: Wer beispielsweise seine Mitmenschen vorwiegend am Gang oder an der Stimme erkennt, so die Mediziner, und gleichzeitig Schwierigkeiten hat, Gesichter zu erkennen, gehört wahrscheinlich zu den Betroffenen.
Mut zur Offenheit
Ein ungewöhnlicher Haaransatz, eine Zahnlücke, ein Grübchen. Mit Hilfe kleiner Tricks und viel Übung können auch Gesichtsblinde ihr Gegenüber erkennen und so manch einer unangenehmen Situation ausweichen. Das ist allerdings auch Übungssache. Die Empfehlung vieler Gesichtsblinder in kniffligen Situationen lautet daher: Besser, man erklärt seinen Mitmenschen, was los ist, als beispielsweise den Chef mit falschem Namen anzusprechen.
Prosopagnosie
Das Wort stammt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus "Prosopon" (Gesicht) und "Agnosia" (Nichterkennen).
Autorin: Sabine Guth (HR)
Stand: 17.09.2015 13:29 Uhr