SENDETERMIN So., 23.01.11 | 17:03 Uhr | Das Erste

Mehr als nur ein Puzzle

Halle voller Steine
Die Forscher stehen vor einem Puzzle mit 27.000 Teilen | Bild: WDR

Anfang 2001, zwei stillgelegte Fabrikhallen in Berlin-Friedrichshagen. Über mehrere Hundert Quadratmeter verteilt liegen 300 Paletten und Dutzende von Gitterboxen mit Tausenden von Steinfragmenten. Auf den ersten Blick sind es 80 Kubikmeter kruder Basaltschutt. Doch das geübte Auge erkennt darunter auch Stücke mit Dekor- und Ornamentresten.

Für das Team aus Archäologen und Restauratoren des Vorderasiatischen Museums Berlin begann vor zehn Jahren eine "mission impossible": Sie sollen die "Götter vom Tell Halaf" wiederauferstehen lassen – eine der bedeutendsten Sammlungen syrohethitischer Monumentalskulpturen, entdeckt und ausgegraben von Baron Max von Oppenheim (1860 - 1946).

Diplomat, Privatgelehrter, Ausgräber

Mann steht vor großer Steinskulptur
Max v. Oppenheim | Bild: Max von Oppenheim Stiftung/Köln

Oppenheim, Spross einer Kölner Bankiersfamilie, ist Diplomat im Orient und passionierter Altertumsforscher. 1899 machen ihn Beduinen auf den Ruinenhügel Tell Halaf im Nordosten Syriens aufmerksam. Er gräbt auf eigene Kosten und hat Glück: Er sticht in einen antiken Burgberg, der seit dem dritten Jahrtausend vor Christus besiedelt war. Schicht für Schicht trägt Oppenheim zwischen 1911 und 1929 den Hügel ab und stößt auf die repräsentativen Palastbauten des Fürstensitzes Guzana (circa 1000 v. Chr.). Eine Stadt, die bereits die Bibel erwähnt, und ein gleichnamiger Stamm, dessen Sprache – Aramäisch – einst Jesus sprach.

Im monumentalen Haupteingang des Palastes aus dem ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung findet Oppenheim die fast drei Meter hohen Statuen der höchsten Götter dieses altorientalischen Volkes: den Wettergott, der auf einem Stier steht, zu seiner Rechten. Und zur Linken Frau und Sohn, beide auf Löwenfiguren stehend. In anderen Bereichen des Palastes weitere Götterfiguren: mächtige Löwen und Greifen, götzenhaft anmutende Skulpturen wie der Skorpionenvogelmann. Er sind Kunstwerke von großer Ausstrahlungskraft und Schönheit.

Als Oppenheim seine Funde 1930 nach Berlin bringt und dort in seinem privaten Tell-Halaf-Museum präsentiert, sorgen sie für großes Aufsehen. Oppenheims Grabung wird im gleichen Atemzug mit denen in Assur und Babylon genannt.

Die Katastrophe vom November 1943

Die "thronende Göttin"
Die "thronende Göttin" war das Schmuckstück | Bild: Max von Oppenheim Stiftung/Köln

Doch im November 1943 treffen Fliegerbomben Oppenheims Museum. Obwohl die Feuerwehren ihr Bestes tun, den Brand zu löschen, werden die mächtigen Löwen und Greifen, Götterfiguren, Reliefplatten mit Jagd- und Tierkampfszenen und Oppenheims Lieblingsfigur, die "thronende Göttin" zerstört. Allen Kriegswidrigkeiten zum Trotz stellt das Vorderasiatische Museum die desolaten Reste jedoch im Rohrkeller der Berliner Museumsinsel sicher. Dort lagern sie, beinahe vergessen, fast 60 Jahre. Erst nach der deutschen Einheit werden sie in den 1990er Jahren erneut begutachtet – und siehe da: Die Restauratoren glauben, dass vielleicht doch die ein oder andere Figur rekonstruiert werden könnte. Es käme auf einen Versuch an.

Ein Puzzle mit lauter Unbekannten

Bruchstücke
Bruchstücke in allen Formen und Größen | Bild: WDR

Im Frühjahr 2001 stehen Lutz Martin, Projektkoordinator des Vorderasiatischen Museums, und Nadja Cholidis, wissenschaftliche Leiterin des Tell-Halaf-Projektes, vor einem Puzzle aus 27.000 Bruchstücken. "Wir haben damals nicht gewusst, um wie viele Fragmente es sich handelt", erinnert sich Nadja Cholidis. "Es gab auch kaum Aufzeichnungen darüber, in welcher Vollständigkeit die Denkmäler geborgen worden sind", ergänzt Lutz Martin. Es ist also ein Puzzle mit lauter Unbekannten. Denn niemand weiß, wie ein solch unübersehbarer Scherbenhaufen mit einem zeitlich und damit auch finanziell zu verantwortenden Aufwand sortiert und zugeordnet werden kann! "Wir wurden damals ein wenig belächelt", erinnert sich Cholidis.

Doch dann geht es wider Erwarten erstaunlich schnell. Die Wissenschaftler konzentrieren sich zunächst auf die Dekor- und Ornamentteile. "Wir haben uns auch sehr gut in den Basalt eingeschaut. Wir haben gerade im ersten Jahr wirklich wie am Fließband Zuordnungen machen können." Welche Teile zusammengehören, wie sich Bruchkante an Bruchkante fügen, das vermag nur das geschulte Auge zu erkennen. Gedächtnis und Intuition leisten da mehr als jedes Computerprogramm. Doch 2004 gibt es kaum mehr auffällige Oberflächenfragmente. Die Zuordnungen dauern immer länger. "Also früher 20 Fragmente in der Stunde, jetzt waren es oft nur zwei oder drei Fragmente in zwei oder drei Stunden. Da haben wir gesagt: Das ist nicht mehr effizient."

Eine ungewöhnliche Zusammenarbeit

Verschiedene Aufnahmen des Gesteins mit Hilfe eines Elektronenmikroskops
Das Ergebnis der mineralogischen Analysen helfen weiter. | Bild: WDR

Die Museumsleute wenden sich an das Institut für Angewandte Geowissenschaften der Technischen Hochschule Berlin. Können ihnen die Mineralogen helfen, die verbliebenen 3.000 Fragmente zuzuordnen? Die Restauratoren haben noch ein weiteres Anliegen. Viele Fragmente sind von einer Brandkruste verklebt. Sie wollen wissen, wie sie möglichst vollständig entfernt werden kann.

In der Zentraleinrichtung für Elektronenmikroskopie an der TU Berlin nimmt Kirsten Drüppel die mineralogische Struktur des Basalts und die chemische Zusammensetzung der Brandkruste unter die Lupe. Unter dem Lichtmikroskop studiert sie die mineralogische Struktur der zum Teil recht kleinen Basaltfragmente und findet heraus, dass sie aus ein und demselben Steinbruch stammen. Das macht es schwer, sie zu unterscheiden. Auf Basis der mineralogischen Kriterien kann sie die verbliebenen Fragmente aber immerhin in Gruppen unterteilen. "Es war uns nicht möglich zu sagen, dieses oder jenes Fragment gehört zu einem speziellen Bildwerk", erklärt Kirsten Drüppel. "Allerdings konnten wir feststellen, dass bestimmte Fragmente nicht zu Bildwerken gehörten." Damit können die Restauratoren immerhin im Ausschlussverfahren Zuordnen trennen und damit kostbare Zeit sparen.

Doch die mineralogische Analyse hilft auch den heutigen Ausgräbern am Tell Halaf unverhofft weiter: Drüppel widerlegt eine Vermutung Max von Oppenheims. Er glaubte, der Basalt stamme aus dem vom Tell Halaf nur 15 Kilometer nördlich gelegenen Steinbruch El Kbise. Drüppel kommt zu dem Ergebnis, dass der Basalt aus dem 60 Kilometer südlich gelegenen Ard esh-Sheik gewonnen wurde, einer Region am Oberlauf des Arbur. Tatsächlich konnten die Archäologen dort den Basalt mit der identischen mineralogischen Struktur orten.

Ein Blick zurück in die Bombennacht

Rekonstruktion verschiedener Skulpturen
Man will mehrere Skulpturen widerherstellen

Doch was ist mit der Rußkruste? Kann sie entfernt werden? Kirsten Drüppel legt eine hauchdünn geschliffene Probe unter ein Rasterelektronenmikroskop. Es vergrößert die Stücke um das 100.000-fache. So können sogar die enthaltenen chemischen Elemente identifiziert und auf dem Computer farblich sichtbar gemacht werden. Es ist wie ein Blick zurück in die Brandnacht des Jahres 1943: Die Kruste enthält unter anderem Spuren der geschmolzenen Dachpappe des Museums; Glas und Metall der Fenster und Rohrleitungen. Doch Kirsten Drüppel überraschen vor allem die hohen Anteile von Phosphor – die Spuren einer Phosphorbombe, die das Museum getroffen haben könnte.

Eine Phosphorbombe würde auch ein anderes Rätsel lösen. Die Restauratoren wundern sich, dass die Figuren in derart viele Teile zerbrachen, Schicht für Schicht bis tief in den Kern. Phosphor entfacht enorme Hitze. Die Figuren wurden bis auf 1.000 Grad erhitzt und dann durch das Löschwasser schockartig heruntergekühlt. Der Basalt hielt der enormen Spannung nicht stand – die Figuren zerplatzten geradezu. Unter der enormen Hitze brannte sich die Dachpappe derart porentief in die Gesichter der Figuren, dass die Bitumenschicht nicht entfernt werden kann, ohne die ursprüngliche Patina der Skulpturen zu zerstören.

Erfolgreiche Puzzlearbeit

Die "thronende Göttin" und ihre "Retter"
Die "thronende Göttin" und ihre "Retter" | Bild: TU-Pressestelle/Dahl

Für die Geowissenschaften wie für die Archäologen ist dies eine ungewöhnliche und für beide Seiten fruchtbare Zusammenarbeit. Nur 2.000 von 27.000 Teilen konnten nicht zugeordnet werden. Heute lächelt niemand mehr über die Restauratoren: Nach sieben Jahren Arbeit sind 60 Objekte zusammengefügt, darunter 30 Bildwerke wie das Doppelsitzbild eines Paares, vier der insgesamt sechs Monumentalplastiken von der Eingangsfassade des Westpalastes sowie die "thronende Göttin", jene von Oppenheim so bewunderte große weibliche Grabfigur. Dank der großzügigen Förderung durch die Sal. Oppenheim-Stiftung, die Alfred Freiherr von Oppenheim-Stiftung, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Auswärtige Amt und die Staatlichen Museen zu Berlin erhält das Ostasiatische Museum eine Sammlung, die heute nirgendwo mehr auf dem Kunstmarkt erhältlich ist. Ein spektakulärer Sammlungszuwachs.

Vom 28. Januar bis zum 14. August 2011 ist die berühmte Sammlung Oppenheim nun im Vorderasiatischen Museum Berlin in einer Ausstellung zu sehen. Ab 2019 soll die antike Palastfassade den neuen Zugang zum Vorderasiatischen Museum auf der Museumsinsel bilden.

Adressen

"Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf"
Ausstellung vom 28. Januar – 14. August 2011 im Pergamonmuseum Berlin

Staatliche Museen zu Berlin –
Stiftung Preußischer Kulturbesitz
Stauffenbergstraße 41
10785 Berlin
Tel.: (030) 26 642 34 00

Vorderasiatisches Museum
Bodestraße 1-3
10178 Berlin
Tel.: (030) 20 90 - 53 01
E-Mail: vam(at)smb.spk-berlin.de

Literatur

"Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf"

Begleitband zur Berliner Ausstellung
Verlag Schnell & Steiner GmbH, Regensburg
368Seiten, 320 Tafeln
29,90 Euro (als Museumsausgabe)
ISBN 978-3-7954-2449-7

Tell Halaf. Im Krieg zerstörte Denkmäler und ihre Restaurierung

Nadja Cholidis, Lutz Martin
Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin
524 Seiten, 132 Tafeln, 1 CD-Rom, 129,95 Euro
ISBN 978-3-11-022935-6

Kopf hoch! Mut hoch! Und Humor hoch!

Nadja Cholidis, Lutz Martin
Verlag Philipp von Zabern, 2002
72 Seiten, broschiert, 94 Abbildungen, 6 Euro
ISBN: 3-8053-2978-4

Autoren: Rüdiger Heimlich, Frédérique Veith (WDR)

Stand: 17.06.2014 14:52 Uhr

Sendetermin

So., 23.01.11 | 17:03 Uhr
Das Erste

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