So., 17.04.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Wenn Blinde wieder sehen können
Auf einmal war für Lothar alles schwarz. Von einem Rennen aufs andere konnte er seine heißgeliebte Formel 1 nicht mehr sehen. Die Krankheit Retinitis pigmentosa hat seine Netzhaut zerstört - jetzt ist er blind und abhängig von seinem Hund. Richtig abfinden kann er sich mit der neuen Situation nicht. "Es ist schon ein großer Wunsch, wieder sehen zu können. Für viele Menschen, die ihre Blindheit akzeptiert haben, vielleicht nicht so. Aber ich - der viele, viele Jahre gesehen und quasi von heute auf morgen das Augenlicht verloren hat - ich möchte schon ganz gern wieder sehen, ja."
Lothar ist froh, bei einem Pilotversuch an der Augenklinik der Universität Tübingen mitzumachen. Hier forscht man seit Jahren an einem Chip, der Blinden einen Teil ihrer Sehkraft zurückgeben soll. Lothar ist der erste Patient überhaupt, dem der Chip unter die Netzhaut implantiert wird.
Ein Wunder der Technik
Vom Chip ist bei den Patienten nichts zu sehen außer ein Kabel: Das liegt hinter dem Ohr und versorgt den Chip mit Strom. Der Chip selbst ist klein - gerade einmal drei Mal drei Millimeter groß. Trotzdem ist darauf Platz für 1.500 Solarzellen. Die machen genau das, was auch die Sehzellen der Netzhaut tun: Sie wandeln Licht in elektrische Signale um und reizen den Sehnerv. Diese Informationen werden dann im Gehirn zu Bildern verarbeitet - wenn denn alles funktioniert. Dazu müssen die Ärzte den Chip während der OP exakt platzieren.
Der große Test
Bei der OP läuft alles glatt, die Ärzte sind zufrieden. Doch das Forscherteam kann ihn nicht sofort testen – zunächst muss das Auge von Lothar abheilen. Eine Woche später ist der große Tag gekommen: Der Chip in Lothars Auge wird an den Strom angeschlossen. Der Kopf des Pilotprojekts, Eberhart Zrenner, testet, ob Lothar Lichtreize wahrnehmen kann. Doch seine Antwort lautet jedes Mal: "Nichts. Wieder nichts. Ich sehe nichts."
Lothars Welt bleibt dunkel. Warum, weiß keiner. Auch der Frust bei Zrenner ist groß: "Die Enttäuschung ist nicht wegzudiskutieren, ganz klar. Es wäre schön gewesen, wenn er seinem Blindenhund nun hätte erzählen können, wo es lang geht."
Später stellt sich heraus, dass die hochsensible Elektronik für den Einsatz im Auge "nicht dicht" genug war. Das ist für alle Beteiligten zwar zunächst frustrierend. Für die Forscher bedeutet dieser Misserfolg aber auch: Eine Fehlerquelle ist erkannt. Nun muss sie beseitigt werden, damit die nächsten Patienten mehr Glück haben.
Mika lernt lesen
Zweieinhalb Jahre später: Die Forscher um Professor Zrenner haben den Chip weiterentwickelt – für die Ärzte und Patienten war es ein großes Auf und Ab. Jetzt ist Testperson Nummer elf an der Reihe: Mika ist für die Versuche extra aus Finnland angereist. Auch seine Netzhaut wurde durch eine Krankheit zerstört. Sich wieder unabhängig orientieren zu können - ohne Hilfsmittel und die Hilfe anderer - das wäre für ihn ein Traum.
Eine Woche nach der OP kommt auch bei ihm der erste Praxistes - und es funktioniert: "Sie sagen uns jetzt, wie viele Personen sie erkennen können", gibt Zrenner Mika zur Aufgabe. "Und dann gehen Sie auf sie zu." Tatsächlich: Es klappt! Mika kann mit Hilfe des Chips erkennen, wie viele Menschen vor ihm stehen. Er schafft es sogar, gezielt auf sie zuzugehen und direkt vor ihnen stehen zu bleiben.
Lesen fällt ihm dagegen noch schwer: Sein Gehirn muss sich erst wieder an Sinnesreize gewöhnen, die sehr lange gefehlt haben. Ähnlich wie bei einem Sportler, der lange nicht mehr trainiert hat. Einen Buchstaben nach dem anderen entziffert er, am Ende zieht er sie alle zusammen und ist stolz: "Da steht das Wort Maus. Für die meisten Menschen ist das eine kleine Sache. Für mich ist es eine Riesengeschichte. Ich habe fast 20 Jahre nichts mehr gesehen. Und jetzt lerne ich wieder lesen. Ich fange noch einmal ganz von vorne an."
Ein Chip mit Zukunft
Für Mika ist das Experiment nach vier Monaten vorbei. Sein Chip wurde ihm wieder explantiert – so war es von Anfang an geplant. Jetzt geht es für ihn zurück nach Finnland. Er konnte als einer der ersten bei einem wichtigen Pilotprojekt teilnehmen – und hatte richtig Glück. Denn welcher Blinde kann schon erzählen, dass er zumindest für eine kurze Zeit wieder sehen konnte? Und wer weiß, wohin die Forschung der Tübinger am Ende führt, denn eigentlich sind sie erst am Anfang: Inzwischen kooperieren sie mit Wissenschaftlern in den USA – die Forschung am Retina-Chip geht in die nächste Runde.
Adressen
Prof. Dr. med. Eberhart Zrenner
Augenklinik Tübingen
Schleichstr 12-16
72076 Tübingen
Tel.: (07071) 29-87316
E-Mail: implant(at)stz-eyetrial.de
Autoren: Tilman Achtnich, Sarah Weiss (SWR)
Stand: 12.08.2015 13:29 Uhr