So., 27.02.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Zu Besuch in Ardis Heimat
Wie schafft man es als Cover Girl auf die renommierteste Wissenschaftszeitung der Welt? Nun, das Alter ist ausschlaggebend, und ausnahmsweise ist "alt sein" voll in: Der Dame stecken 4,4 Millionen Jahre in den Knochen! Sie gehört zu den direkten Vorfahren des Menschen. Wissenschaftler haben ihr Skelett 1992 in Äthiopien gefunden. Der Name des Topmodells: Ardipithecus ramidus. Übersetzt bedeutet das ungefähr so viel wie "Bodenaffe an der Wurzel des Menschen". Oder man nennt sie einfach Ardi.
Wie alles begann
Es ist der 17. Dezember 1992. Im Herzen der Afar-Senke in Äthiopien gehen Wissenschaftler ein Gelände etwa 300 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Addis Abeba ab. Sie sind auf der Suche nach den fossilen Spuren unserer Vorfahren. Kurz nach Mittag findet der japanische Archäologiestudent Gen Suwa im staubigen Untergrund den Zahn eines Urmenschen. Den Wissenschaftlern um den amerikanischen Anthropologen Tim White ist sofort klar, dass dieser Fund von unschätzbarem Wert sein wird. Dem Zahn folgen weitere Zahn- und Knochenfunde.
Das älteste Urmenschenskelett der Welt
18 Jahre nach dem ersten Fund präsentiert uns der Leiter des Nationalmuseums, Dr. Yonas Beyene, die Bruchstücke des bislang ältesten Urmenschenskeletts. Die zerbrechlichen Skelettteile begeistern ihn selbst nach so langer Zeit immer noch: "Sein Wert liegt in der Bedeutung, die wir unseren Wurzeln beimessen, unserer eigenen Geschichte. Wie sind wir auf diese Erde gelangt? Wir wurden wir so, wie wir heute sind? Diese Proben hier gehören zu den wertvollsten Urmenschen-Funden der Welt. Aber nicht nur das. Es ist das älteste Skelett der Welt überhaupt."
Genau 125 Bruchstücke fügten die Wissenschaftler zusammen, und daraus lässt sich eine Menge herleiten. Die Maße der Hominiden-Dame: etwa ein Meter zwanzig groß. Gewicht: etwa 50 Kilogramm – also aus heutiger Sicht nicht unbedingt Model-Maße...
Aber sportlich war Ardi trotzdem: Das verrät das Skelett, das trotz seines Alters erstaunlich gut erhalten ist. So zeigen die Finger- und Fußknochen, dass Ardi gut klettern konnte. Aus der Form des Beckens leiten die Forscher jedoch ab, dass Ardi aufrecht ging. Vor 4,4 Millionen Jahren lebte also ein Wesen, das dem Menschen näher war als dem Affen. Doch wie hat Ardi gelebt? Warum begann Ardi, aufrecht zu gehen? Fragen, die nur die Fundstelle beantworten kann.
Forschen im Land der Afar
Mit Yonas Beyene fahren wir in die Tiefebene des Ostafrikanischen Grabens. In diesem gigantischen Tal liegt die Wiege der Menschheit, so der Museumsleiter: "Dieses Gebiet ist sehr wichtig, wenn es darum geht, die Geschichte der menschlichen Entwicklung zu verstehen. Welche Umwelt hat uns geprägt? Welche Tiere und Pflanzen lebten mit uns?" Unsere Reise dauert einen Tag. Sie führt in das Gebiet der "Afar" – ein Hirtenvolk, dessen Unbeugsamkeit gefürchtet ist. Wer hier forschen will, braucht ihre Zustimmung. Denn die Afar sind stolz und kriegerisch. Sie akzeptieren keine Fremden in ihrem Hoheitsgebiet. Wir mussten uns für unseren Besuch mit Yonas Beyene gut eine Woche vorher ankündigen. Jetzt gelten wir als Gäste der lokalen Stammesführer und können unser Camp sicher aufschlagen.
Ardis Heimat – der Ursprung des aufrechten Ganges?
Am nächsten Tag machen wir uns auf den Weg zur eigentlichen Fundstelle – nach Middle Awash. Nach einer guten halben Stunde Fahrt erreichen wir das Gebiet, in dem schon andere Skelette von Urmenschen ausgegraben wurden. "Wir stehen hier auf dem „Central Afar-Komplex", erklärt Yonas Beyene. "Das sind 300 Meter dicke Sedimente, die in der Zeit vor 4,6 bis 3,8 Millionen Jahren abgelagert wurden."
Ein Steinkranz markiert die Grabungsstätte. Der Archäologe ist sich sicher, in der Nähe Hinweise auf den Lebensraum von Ardi zu finden. Denn alle fossilen Knochen, die hier im Boden liegen oder durch die Erosion freigelegt werden, müssen aus Ardis Ära stammen. Und tatsächlich: Nach wenigen Minuten Suche finden wir das Bruchstück eines Stoßzahnes. Nur wenige Meter weiter der nächste Fund – ein Zahn von einem Affen. Aus all diesen Funden lässt sich Ardis Welt vor 4,4 Millionen Jahren rekonstruieren: Sie lebte nicht in der trockenen Savanne, sondern in einer waldreichen Umwelt, die feuchter und kühler war als der Fundort heute. Die dichten Wälder wechselten sich aber mit offeneren Stellen und Graslandschaften ab. Gut, dass Ardi nicht nur klettern, sondern auch aufrecht gehen konnte. Ein klarer Vorteil für diese Spezies, aus der letzten Endes der Mensch hervorgegangen ist.
Hilmar Liebsch (SWR)
Stand: 01.07.2015 13:52 Uhr