Interview mit Bärbel Kannemann
Bärbel Kannemann ist eine ehemalige Kriminalhauptkommissarin. Sie hat nach ihrer Pensionierung die Initiative No Loverboys gegründet und kümmert sich um die Opfer von Loverboys. Zudem hält sie Vorträge an Schulen, um Eltern und Schüler über die Masche der Loverboys aufzuklären.
Wie sieht es derzeit aus mit der Loverboy-Problematik? Wie viele Mädchen sind betroffen?
Bärbel Kannemann: Es gibt keine offiziellen Zahlen und es werden ja auch kaum Anzeigen erstattet. Aber die Problematik ist groß. Wir hatten eine Schule in der Nähe von Düsseldorf, mitten auf dem Land, und da hatten wir elf Opfer an einer kleinen Schule.
Gibt es eine Durchschnittszahl, wie viele Opfer es pro Schule gibt?
Es gibt keine Durchschnittszahlen. Man kann überhaupt keine Zahlen nennen. Es ist ja so, dass die betroffenen Mädchen sich überhaupt erst melden, wenn über dieses Thema auch mit anderen gesprochen wird, wenn sie hören, es betrifft nicht mich alleine. Nicht nur ich bin so dumm gewesen, auf den rein zu fallen, das sind viele, denen es so geht. Und erst dann suchen die Mädchen Hilfe. Aber was extrem groß ist, ist die Angst und die Scham der Betroffenen. Überhaupt Hilfe zu suchen und darüber zu reden.
Wo suchen die Loverboys ihre Opfer?
Ich habe festgestellt, dass in den letzten zwei Jahren zunehmend Mädchen aus oberen sozialen Schichten betroffen sind, auch viele Mädchen, die auf Privatschulen oder aufs Gymnasium gehen. Da höre ich immer von den Eltern den Satz: Meiner Tochter passiert sowas nicht, die geht ja aufs Gymnasium, die ist nicht so blöd, darauf rein zu fallen. Aber gerade diese Mädchen suchen sich die Täter, weil man da nicht glaubt, dass sowas passieren kann. Und diese Mädchen gehen ja von einer Welt in die andere. Von der heilen, sozial gefestigten Welt, in diese immer mehr kriminell werdende Welt des Täters. Das ist anfangs für diese Mädchen oft auch interessant. Und sie lassen sich auch oft davon beeindrucken. Also, es nimmt deutlich zu, dass Mädchen aus oberen sozialen Schichten betroffen sind.
Welche Art von Freier steht auf junge Schulmädchen?
Die meisten Freier sind Familienväter. Ganz häufig Männer, die mittleren Alters sind, und vielleicht sogar Töchter haben, die im gleichen Alter sind, wie die Mädchen, die sie missbrauchen. Was anderes ist es ja nicht.
Ist den Freiern bewusst, dass es Minderjährige sind?
In den meisten Fällen ja. Es gibt natürlich Bordelle, die den Mädchen gefälschte Ausweise geben und dann sagen: okay, die war 18. Das kann man natürlich machen, wenn das Mädchen 16 oder 17 ist. Aber wir haben auch betroffene Mädchen, die sind 12, 13. Da kann man keinem Menschen sagen: ich dachte, die ist volljährig. Damit kann kein Freier argumentieren.
Aus welchen Berufsgruppen kommen die Freier?
Da ist jede Berufsgruppe vertreten. Ich hatte ein Mädchen, das ich betreut habe, die hatte ihren eigenen Klassenlehrer als Freier. Wir haben Pfarrer, wir haben Rechtsanwälte, wir haben Ärzte, Richter, Staatsanwälte, Polizisten, es ist jede Berufsgruppe vertreten.
Gibt es kriminelle Strukturen, die hinter den Loverboys stehen?
Loverboys sind eigentlich ja erst mal Einzeltäter. Denn das Mädchen kann sich ja nur in den einen Täter verlieben. Dann sind diese Loverboys aber auch untereinander vernetzt. Manchmal gehören sie Rockergruppen an, manchmal gehören sie Clans an und manchmal haben sie einfach auch nur die gleichen Interessen: Nämlich Mädchen auszubeuten und für sich arbeiten zu lassen.
Mit welchen Druckmitteln arbeiten die?
In den meisten Fällen wird gedroht, der Familie des Mädchens etwas anzutun, ganz häufig kleineren Geschwistern. Wenn die Mädchen zum Beispiel kleine Schwestern haben, dann wird gedroht: Entweder du machst, was wir dir sagen, oder wir holen uns deine kleine Schwester, und dann macht die, was wir ihr sagen. Und da die Drohungen gegen die Mädchen selbst eigentlich immer wahr gemacht werden, müssen die Mädchen natürlich auch glauben, dass die Drohungen gegen Außenstehende, also ihre Familie, auch wahr gemacht werden. Und deswegen steigen sie nicht aus.
Was verdient ein Loverboy im Schnitt?
Der Verdienst ist unterschiedlich. Das Einkommen der Mädchen, was sie ja nicht behalten können, sie müssen ja alles bis auf den letzten Cent an den Loverboy abliefern, ist zum Beispiel nach Jahreszeiten unterschiedlich. Wir hatten in Amsterdam einen Loverboy, der hatte fünf Mädchen, die für ihn gearbeitet haben, und man konnte ihm 75.000 Euro im Monat nachweisen.
Sie gehen immer wieder an Schulen und klären dort Eltern und Schüler über das Thema auf. Erfahren die meisten Eltern durch den Vortag an der Schule zum ersten Mal von dem Thema Loverboys?
Die meisten Eltern kennen das nicht. Und die meisten Eltern sind auch sehr erstaunt, vor allem wenn es um das Thema geht: wo gibt es so etwas. Gibt es das nur in Großstädten, ist das auch auf dem Land, ist das auch hier bei uns, wo wir jetzt gerade an der Schule sind? Und das erstaunt die Eltern sehr, wenn man sagt: Loverboys gibt es überall. Und gerade auch durch das Internet, da werden ganz häufig die ersten Kontakte gemacht.
Wie ist in der Regel die Reaktion nach so einem Vortrag?
Die Reaktionen sind unterschiedlich. Viele sind geschockt, können sich das gar nicht vorstellen, haben vielleicht schon mal davon gehört, glauben aber dass das Mädchen aus Osteuropa, Afrika oder Asien betrifft. Die sind geschockt, wenn sie erfahren: Das kann auch ihre Tochter betreffen.
Warum stellen sich viele Schulen quer bei der Aufklärung?
Ich denke, es gibt viele Probleme, die an Schulen besprochen werden müsen. Aber es sind dann ganz häufig die Lehrer, die dann sagen: nee, nicht noch so was. Wir haben genug und müssen nicht damit auch noch anfangen. Und außerdem, an unserer Schule haben wir sowas ja nicht. Und dann wird das Thema häufig beiseitegeschoben.