Interview mit einem Loverboy-Opfer
Jule ist 18 als sie sich in ihren Loverboy verliebt. Sie hat gerade Abitur gemacht und weiß noch nicht so genau, wie es jetzt weitergehen soll. Über Facebook lernt sie Kayan kennen. Er hatte Jule geschrieben, wie hübsch er sie findet und ihr eine Freundschaftsanfrage geschickt.
Was hat dir an ihm gefallen?
Jule: Was mich so fasziniert hat, war, dass er sich so präsentiert hat, als ob er "Mister Right" wäre. Also der Mann, den man hätte haben müssen, wenn man seine Kinder gut erziehen möchte, wenn man die perfekte Beziehung haben möchte, und halt so, wenn man von Haus und Hof träumt.
Wie lange habt ihr euch geschrieben, bis ihr euch getroffen habt?
Es war in jedem Fall ein längerer Zeitraum. Das war nicht so, heute geschrieben und morgen getroffen, sondern da war ein längerer Abstand dazwischen. Und als wir uns dann getroffen haben, war es eigentlich schon so, dass es sich so angefühlt hat, dass wir uns ziemlich nahe waren, weil er viel über mich wusste. Er wusste praktisch alles über mich. Von der Geburt an bis zu dem Zeitpunkt, an dem er mich getroffen hat.
Das heißt, es ist ihm gut gelungen, Vertrauen aufzubauen?
Richtig, genau, er wusste auch viele intime Dinge. Deshalb war es vermutlich auch relativ vertraut, als wir uns das erste Mal getroffen haben.
Wie lief das erste Date?
Wir sind spazieren und was essen gegangen. Dann hat er angefangen, meine Hand zu halten und versucht, körperliche Nähe aufzubauen. Und hat dann "Mister Charming" raushängen lassen, hat Komplimente gemacht. Es war in dem Moment natürlich ein angenehmes Gefühl.
Er hat dir also auch gefallen?
Also, ich dachte zu dem Zeitpunkt, das wäre wie ein Sechser im Lotto. Weil das, was er mir erzählt hat, das hat zu 100 Prozent gepasst. Ich glaube einfach von der ganzen Lebensansicht, dass er auf der Suche nach etwas Festem ist, dass er in einem Alter ist, in dem er auch schon an die Zukunft denkt, dass er auch gerne eine Familie gründen möchte. Und dann war ich zu dem Zeitpunkt auch schon verknallt.
Wie war denn damals deine Lebenssituation, als du ihn kennengelernt hast?
Ich würde sagen schwierig. Ich glaube, ich hatte das Gefühl, dass ich eine schützende Hand brauche. Zu diesem Zeitpunkt in dieser Lebenskrise.
War er ein Beschützertyp?
Ja, vom Auftreten und von seiner Persönlichkeit her schon. Er hat gesagt, dass er immer für mich da wäre, egal was ist, und dass er meine Hand hält, egal was passiert. Kurze Zeit danach sind wir dann auch schon zusammen gekommen. Dann kam von seiner Seite aus: Hey, ab heute bist du meine Frau, ich bin dein Mann und es passt kein Blatt mehr zwischen uns. Das ging dann alles sehr zügig.
Wann und wie hat er das Thema Prostitution aufgebracht?
Das Thema kam auf, als wir mit diesen Tagträumereien angefangen haben. Dass wir das perfekte Paar sind, dass uns jetzt nur noch eine Familie fehlt und halt auch ein Haus. Wir hatten noch keine finanziellen Mittel, um unsere Träume zu verwirklichen. Und dann habe ich auch unter seiner ganzen Gehirnwäsche einen Kredit aufgenommen, den wir ja brauchen, weil wir uns eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollen. Der Kredit lief unter meinem Namen und dann mussten die monatlichen Raten auch getilgt werden. Dann hatte ich Existenzängste, wie ich das alles bewältigen soll, diese Tilgungen, weil die ja nicht gerade ohne waren. Und dann kam er mit der Idee, den Weg in die Prostitution einzuschlagen, weil man da in kürzester Zeit viel Geld verdienen könnte.
Wie hast du denn reagiert, als er das gesagt hat?
Ich war baff. Ich habe ihn gefragt, ob das ein Scherz sein soll, ob er das wirklich ernst meint und ob er von allen guten Geistern verlassen ist, mich so etwas zu fragen. Also da gab es tagelang Diskussionen und Reibereien, weil ich das nicht verstanden habe. Aber er konnte sich, wie gesagt, gut präsentieren, gut darstellen, gut ausdrücken und er wusste, welche Worte er benutzen musste, um halt so eine Gehirnwäsche zu betreiben. Anders kann man das nicht beschreiben.
Was sagte er denn zum Beispiel, um dich zu beruhigen?
Er hat immer betont, dass er ein ganz anderer Mensch geworden ist, seit er mich kennen gelernt hat und dass ich die Mutter seiner Kinder sein soll. Mit den ganzen Träumen, die ich im Kopf hatte, hat er gespielt. Und ich war völlig blind, um es so zu sagen, weil ich von der Idee, die wir damals hatten, wirklich fasziniert war und wirklich dran geglaubt habe, dass er der Traummann wäre.
Hat er dir gesagt, wie lange du das machen musst?
Ja, das hat er auch geschickt gemacht. Er hat gesagt, dass das höchstens zwei oder drei Wochen geht oder dass es nur ein paar Tage sein könnten. Das könne er halt nicht fest machen, aber das würde nicht lange dauern. Und er würde jeden Moment bereuen, in dem ich in so einem Etablissement unterwegs wäre, und ich würde keine Sekunde länger dort bleiben, als nötig. Das hat er dauernd gesagt.
Wie ist denn dann dieser Punkt, wenn man einknickt und sagt okay, ich mache das?
Das war nachdem es stundenlang um dieses eine Thema ging und er alles so beschönigt hat und gesagt hat: Das ist alles für unseren Traum, für unser Lebensziel. Und dass ich doch sein Lebensmittelpunkt wäre, dass ich für diesen Lebensmittelpunkt kämpfen soll und dass ich ihm damit beweisen würde, wie sehr ich ihn lieben würde. An diesem Punkt war ich vom Kopf her nicht mehr aufnahmefähig. Ich habe dann einfach nur zu mir gesagt: Okay, das stehst du jetzt durch, du liebst ihn über alles und er möchte Beweise für deine Liebe sehen, also tust du alles, um ihm das auch zu zeigen. Und dann habe ich schweren Herzens gesagt: Du hast Recht, ich zeige dir, dass ich zu dir gehöre, indem ich dir beweise, wozu ich fähig bin.
Wie ging es dir denn in der Zeit, als du für ihn anschaffen gegangen bist?
Schlecht. Also, die ersten Wochen und Monate sehr schlecht. Weil ich da einfach nur weg wollte. Es war alles nicht mehr ertragbar. Ich hab auch jedes Mal, wenn wir uns dann gesehen haben, geweint. Dann hat er immer wieder dieselbe Leier von sich gegeben: Das schaffen wir, es sind nur noch wenige Wochen, es sind nur noch ein paar Tage, mach dir keine Sorgen, wir kriegen das Geld schon irgendwie zusammen. Und: Ich bin doch dein Mann, ich liebe dich.
Wie hat er es geschafft, dich immer wieder zu überzeugen, weiter anschaffen zu gehen?
Er hat mich immer daran erinnert, dass wir bald eine Familie haben werden und dass das unser Ziel wäre. Dafür tun wir das. Damit hat er mich dann wie einen kleinen Welpen immer wieder geködert.
Wie hast du das ausgehalten?
Ich war wie in einer Rolle. So kann man das sehen. Ich hatte meinen Künstlernamen und meine Rolle, in die ich da jedes Mal hinein geschlüpft bin.
Und das hat dann geholfen, wenn man in so eine Rolle schlüpft?
Ja, ich war dann knallhart. Ich hab einfach nur nach vorne geschaut und hab das als Rolle gesehen. Mehr nicht. Alles andere war komplett weg.
Wie haben sich die Freier dir gegenüber verhalten?
Es gibt gute Freier und schlechte Freier. Sagen wir es mal so. Es gibt Freier, die behandeln einen wie eine Frau, und es gibt die anderen, die einen wie ein Stück Scheiße behandeln. Um es mal harmlos auszudrücken: Die sagen dann, ich bezahl hier das Geld und dafür erwarte ich auch eine gewisse Gegenleistung.
Haben deine Familie und Freunde mitbekommen, dass du einen neuen Freund hast?
Nachdem ich mit ihm zusammen gekommen bin, hat er immer wieder gesagt, mein ganzes Umfeld würde mir nicht gut tun, ich bräuchte nur ihn und ich wäre sein Lebensmittelpunkt. Und dann habe ich von jetzt auf gleich den Kontakt zu meiner Familie, zu Freunden und Bekannten aufgegeben. Also keinen telefonischen Kontakt, nichts.
Hätten die dich kontaktieren können?
Nein. Ich war komplett isoliert. Von jetzt auf gleich praktisch vom Erdboden verschluckt. Also, es wäre auch wirklich schwer gewesen, überhaupt an mich ran zu kommen. Weil die Überwachung schon sehr extrem war.
Wie ist es dann weiter gegangen?
Es kam zu einem Polizeieinsatz. Ja, und dann kam die ganze Wahrheit ans Licht: Dass ich nicht die einzige Frau bin, die für ihn anschaffen gegangen ist. Und nach und nach ist dann die Wahrheit ans Licht gekommen.
Das glaubt man doch erstmal gar nicht, oder?
Ich muss sagen, an den Tag kann ich mich sehr schlecht erinnern, weil mir von jetzt auf gleich das Leben genommen worden ist. Also das Leben, an das ich geglaubt habe. Das war auf einmal nicht mehr da. Und dann kamen die Existenzängste.
Wie geht es dir heute?
Ich glaube, ich bin aus dem Gröbsten heraus. Nicht ich glaube, ich weiß, dass ich aus dem Gröbsten heraus bin. Ich konnte dank spezieller Unterstützung von Beratungsstellen und Therapeuten wieder Fuß fassen. Der Kontakt zu meiner Familie hat mir sehr geholfen, wieder auf eine gerade Bahn zu kommen, gerade weil ich in der Zeit davor ja komplett isoliert war. Und auch wieder Kontakt zu Freunden und Bekannten aufzunehmen. Aber der erste Schritt war schon hart. Mich dieser Situation zu stellen und die Fragen zu beantworten, warum, wieso, weshalb ich weg war, oder warum war der Kontakt auf einmal komplett weg. Ohne professionelle Hilfe hätte ich das auch nicht geschafft.