Gespräch mit Dr. Wolfram Schädler

Ursula Stöcker (Hildegard Schmahl) verlangt, dass der Mörder ihrer Tochter hinter Gitter kommt.
Ursula Stöcker verlangt, dass der Mörder ihrer Tochter hinter Gitter kommt. | Bild: NDR / Christine Schroeder

Gespräch mit Dr. Wolfram Schädler, Rechtsanwalt und Bundesanwalt a.D. Anwalt von Hans von Möhlmann, Vater von Frederike von Möhlmann.

§ 362 StPO regelt die Bedingungen, unter denen ein einmal Verurteilter in derselben Sache erneut angeklagt werden kann. Warum ist das wichtig?

Dieser Paragraph wurde nach den Erfahrungen, die mit der nationalsozialistischen Diktatur gemacht worden sind, ins Grundgesetz aufgenommen. Der Gesetzgeber wollte damit verhindern, dass uferlos jedes Urteil einfach kassiert wird, wenn es dem Staat nicht passt, wie es in der NS-Diktatur der Fall gewesen ist. Wenn den Nationalsozialisten Strafen nicht hoch genug erschienen, wurden die Urteile aufgehoben und schärfere Strafen verhängt. Dem wollten die Gesetzgeber einen Riegel vorschieben, und deshalb steht dieser Paragraph so da drin.

Es gibt also gute Gründe für die strenge Regelung.

Das heißt aber nicht, dass es immer so bleiben muss, wie es jetzt im Gesetz steht; das ist nicht in Stein gemeißelt. Das hat 1981 auch das Bundesverfassungsgericht gesagt. Wenn sich später neuere Entwicklungen ergäben, wie es in einer Entscheidung heißt, kann der Gesetzgeber das auch ändern. Nur der Kern des Grundsatzes, dass niemand zweimal wegen derselben Sache bestraft werden kann, muss unangetastet bleiben. Wenn es aber neue Beweismittel wie DNA gibt, die nach einem klaren, rechtstaatlichen Wiederaufnahmeverfahren als Beweismittel anerkannt sind und die Schuld des Täters äußerst wahrscheinlich machen, sollte der § 362 meiner Meinung nach so erweitert werden, dass man diese Mittel bei schwersten Delikten wie Mord und Völkermord als Möglichkeit anerkennt, das Verfahren wiederaufzunehmen. Denn hier hebt der Staat gerade nicht nach Belieben ein Urteil auf.

In Fällen wie dem fiktiven von Janina und einigen sehr realen anderen kommt es sonst zu Ungerechtigkeiten; Mörder, denen man ihre Tat nachträglich nachweisen kann, dürfen nicht belangt werden. Was steht einer Reform entgegen?

Na ja, das ist immer ein Ringen zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Rechtssicherheit ist ein hohes Gut. Irgendwann muss eine Rechtssache und damit die Kontrahenten auch mal zur Ruhe kommen können. Das ist ein ganz wichtiges Faktum für den Rechtsstaat. Dann gibt es aber auch diese andere Seite, die materielle Gerechtigkeit, die eine Entscheidung dann zu korrigieren zwingt, wenn sie unerträglich ungerecht ist. Beides muss man gegeneinander abwägen. Der falsch Freigesprochene bei einem Mord ist so eine unerträgliche Ungerechtigkeit. Die Gegner der Reform beharren darauf, dass durch eine Änderung an diesem Gesetz der Kernbereich des Artikels 103 des Grundgesetzes berührt sei, nach dem niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden darf. Entsprechend müsste also die Verfassung geändert werden, wozu man allerdings eine Zweidrittelmehrheit im Parlament bräuchte. Damit wäre die Reform praktisch tot.

Ich vertrete als Opferanwalt und als Anwalt des Vaters von Frederike von Möhlmann die Meinung, dass man bei schweren Delikten wie im Fall von Möhlmann die Waage mehr der materiellen Gerechtigkeit zuneigen lassen sollte als bei geringeren Delikten. Dazu braucht es keine Verfassungsänderung. Eine einfache Änderung des Gesetzes würde ausreichen. Das ergibt sich so auch meiner Meinung nach aus dem besagten Urteil des Bundesverfassungsgerichts.

Es gab bereits eine Initiative für eine Gesetzesänderung. Woran ist sie gescheitert?

2010 gab es eine Initiative der Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg, auch vor dem Hintergrund eines konkreten Falls. Das hat zu einer Anhörung von Sachverständigen im Bundesrat geführt und ist sehr kontrovers beurteilt worden. Dann kam eine neue Wahl, der Täter starb und die Sache geriet in Vergessenheit. Es bedarf immer eines neuen Falls, bis man merkt, hier brennt die Ungerechtigkeit einem die Fußnägel ab. Dann gucken alle hin und sagen: Was ist da passiert, warum ist das so und warum haben wir das nicht geändert?

Was sagen Sie zu dem Argument, es handele sich um tragische Einzelfälle?

Es gibt tatsächlich nur ganz wenige Fälle, aber das sind Leuchtturmfälle. Jeder, mit dem Sie über so einen Fall sprechen, wird Ihnen sagen, dass es gar nicht sein kann, dass man den Täter nicht mehr belangen kann. "Aber, Mord verjährt doch nicht!", bekomme ich immer wieder zu hören. Das widerspricht einfach unserem Gerechtigkeitsempfinden. Eine Umfrage von Infratest dimap hat ergeben, dass 91 Prozent der Befragten sich für eine entsprechende Änderung des Gesetzes ausgesprochen haben. Umgekehrt sind es nur 9 Prozent, die sagen, dass das, was wir jetzt haben, richtig ist. Sie brauchen aber, zumal in der heutigen Zeit, Rechtsregelungen, die in der Bevölkerung akzeptiert werden. Das Schlechteste, was dem Rechtsstaat passieren kann, ist doch, wenn er sinnlose oder ungerechte Regeln aufgestellt hat und sie nicht korrigiert. Und hier hat er eine Regelung, die niemand nachvollziehen kann, jedenfalls die weit überwiegende Mehrheit nicht.

Wie beurteilen Sie aktuell die Chancen für eine Reform?

Im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung steht, dass die Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des freigesprochenen Angeklagten in Bezug auf die nicht verjährbaren Straftaten erweitert werden. Das ist keine bloße Absichtserklärung, sondern das steht da als verbindliches Ziel. Insofern glaube ich daran. Jetzt oder nie!

(Das Interview wurde geführt von Birgit Schmitz.)

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