»Es war wohl schon immer so: Seit 50 Jahren ragen einzelne 'Tatorte' derart heraus, dass sie in Einzelfällen den gesamten deutschen Kino-Ausstoß des jeweiligen Jahres in die Schranken verweisen können. Beispiele gefällig? Es gab ganz wilde Tatorte wie Fullers fulminante Selbstverwirklichung 'Dead pigeon on Beethoven Street' von 1973. Es gab auch – gerade zur Weltruhm-Zeit des westdeutschen Autorenfilms – einen filmisch gebremsteren, klassischen Erzählstil, der explizit dem Fernsehen zuzurechnen ist. Die Stuttgarter Film-noir-Perle ' Rot-rot-tot', 1978 geschrieben vom großartigen Karl Heinz Willschrei, Regie Theo Mezger, mit Curd Jürgens in der Hauptrolle, ist dafür vielleicht das herausragendste Beispiel. Aber auch des großen Wolfgang Beckers sagenhafter 1974er-Auftakt der Hans Jörg Felmy-Haferkamp-Reihe '8 Jahre später'– wiederum ein geniales Buch von Willschrei – belegt den gelegentlichen Plot-Erfindungsreichtum und die manchmal ungeheure Originalität der Reihe (Es handelt sich hier um den älteren Wolfgang Becker, nicht den 'Good Bye, Lenin!'-Regisseur).
Jan Bonnys und Markus Buschs 'Borowski und das Fest des Nordens' gehört zu den 'Tatorten', die vom ersten Moment an vorwärts stürmen, mit den beiden Hauptfiguren an der Spitze, dem Täter und dem Kommissar, atemlos aneinander gefesselt, sich labyrinthisch ineinander spiegelnd wie siamesische Zwillinge. Zweimal nur treffen sie sich, einmal in der Mitte des Films, einmal am Ende. Mišel Matičević rennt durch Kiel, auch noch in der 'Kieler Woche', offenbar Höhepunkt von nordischen Trinkritualen und Woche der Gesetzlosigkeit. Matičević ist 'Man on Fire', außer sich wie noch nie. Diese Figur ist das Gegenstück zu seinem großartig introvertierten, minmalistischen Gangster in Thomas Arslans Film 'Im Schatten'. Nach zehn Minuten haben wir zwei Schrei-Ekstasen zwischen ihm und zwei seiner Frauen erlebt, die eine will ihn nicht mehr, die andere will ihn zu sehr. 'Sie hat ihn genervt', erahnt Borowski am Ort der mörderischen Abwehr-Tat zügig.
Borowski streift ebenso durch Kiel. Viel Rotwein. Einmal eine Asiatin namens Franziska an der Seite. 'Tutto a posto e niente in ordine'. Verglimmendes Testosteron in eine bitteren Verzweiflungs-Marinade aus Alkohol und Sehnsucht eingelegt. Wundervoll.
Borowskis Gezanke mit Kollegin Brandt über den Krieg (ohne Kriegserklärung) zwischen Männern und Frauen zieht sich durch den ganzen Film. Er bemitleidet den 'Man on Fire', der auf seinem Weg eine beachtliche Opfer-Strecke hinterlässt. Brandt vermutet oder ist sich vielmehr sicher, der Täter sei 'total beziehungsgestört' – wie übrigens alle anderen Männer natürlich auch. Und Brandt findet auch die Hintergründe für den Amoklauf: Schulden, kein Kredit, Ex-Partner in einer Firma gewesen, 'eingeschränkter Umgang mit den leiblichen Kindern', ohne Meldeadresse. Folglich: Abfall der Gesellschaft. Die anti-soziale Kultur des bigotten modernen Berufslebens wächst sich daheim aus zur Familien-Schlacht. Borowski versteht ihn, den überforderten bewegten Mann. Brandt will ihn nicht verstehen, die Frauen sind nämlich auch alle überfordert. Ein täglich anwachsender Gender-Vulkan, der die Gesellschaft in den Abgrund reißt.
Der Name des Täters, 'Roman Eggers', wird erst nach einer Stunde genannt. Und irgendwann sieht man dann auch beiläufig, dass die beiden Frauen, die mit ihm Kinder haben, sich ähnlich sehen.
Jan Bonny hat einen deutschen Dogma-Stil entwickelt, den wir so auch am Höhepunkt der Dogma-Welle in der zweiten Hälfte der 90er nicht hatten. Bonny hat bereits München ('Der Tod macht Engel aus uns allen') und Köln ('Über Barbarossaplatz') in dieser sprunghaften, zerrissen-analytisch-tiefgehenden Art überrannt. Die Entwicklung der Emotionen der Figuren wird bei ihm oft übersprungen. Das Gefühl entsteht in den Gesichtern der Schauspieler, wird in mehreren, sehr unterschiedlichen Varianten gespielt, wird aber dennoch häufig so geschnitten, dass die Quelle, das Begreifen und quasi der 'Ausbruch' des Fühlens direkt aneinander gesetzt sind. Der Kopf des Zuschauers springt und arbeitet mit. Klaus Lemkes Cutter schneidet ähnlich.
Authentizitätsfake der Inszenierung trifft auf Film-Fake, denn wir drehen ja gar keine echten Filme mehr, sondern nur noch elektronische Videos, die hektisch versuchen, sich als Film zu kostümieren. Die Handkamera (sanft und gekonnt: Jakob Beurle) – im Wörterbuch der deutschen TV-Kritiker-Gemeinplätze oft mit dem Adjektiv 'dynamisch' kombiniert – lässt hier gewissermaßen die Erde permanent wackeln, so als läge Kiel auf Stromboli. Und sie suggeriert, die Seelen der Figuren zappeln alle schon im Fegefeuer. Allerdings passt die permanente Volatilität der Bilder auch zur Digitalisierung, zur 'Wertlosigkeit' der Pixel-Erzeugnisse. Handkamera bei 16 mm und 35 mm – das war schon was anderes, denn jedes einzelne von 24 Bildern pro Sekunde hatte materiell ein höheres spezifisches Gewicht, in jeder Hinsicht. In der Art der Herstellung, im ästhetischen Ergebnis.
Am 'Tatort' wird pausenlos herumgebastelt, die Reihe ist in ihrer Häufigkeit und ihrer Schauplatz-Inflation längst aus den Fugen geraten wie ein Mammut-Zirkus. Aber in seinem Kern gelingt ihm eben ab und an genau das, was kaum noch irgendwo im sonstigen Fernsehen und im deutschen Kino hinzukriegen ist, nämlich die mitreißende Freiheit des Genre-Erzählens. Und dies zur besten Sendezeit, das ist natürlich das Entscheidende. Man muss sich diese Freiheit jedoch auch nehmen. Die verantwortlichen Redakteure und Jan Bonny und Markus Busch haben das begeisternd, inspirierend getan.
'Borowski und das Fest des Nordens' ist kein 'Stück' oder 'Programm' oder 'Format', wie sie bei den Sendern gerne sagen. Er ähnelt tatsächlich einem richtigen Film im alten Sinn. Er ist ein Erlebnis, das geduldig und druckvoll auf seine zentrale Szene hinsteuert: Nach über 50 Minuten erleben wir Roman Eggers beim Geldverleiher (Roland Kukulies), der mit Baby auf dem Arm vor ihm steht und ihn pausenlos beleidigt, schließlich auch körperlich attackiert. Und in dieser Szene ist dann alles haarklein erzählt, man sieht genau, wie die Agressionen sich entwickeln, man sieht jedes sich in Zeitlupen-Tempo türmende Actio-Reactio-Detail des Irrsinns, der Demütigung, der Wut in Matičevićs Gesicht nachgezeichnet, ein böses verzweifeltes Kind, in die Ecke gedrängt. Dauer der Sequenz, die mir bisher einmalig erscheint in der 'Tatort'-Geschichte: über sechs Minuten. Ihr gewaltiger Eindruck überlagert den Film von da an. Am Ende fließt der Fluss der Erzählung sozusagen ins Meer, in die Kieler Bucht. Tiefe Trauer. Die 'Tatort'-Musik klingt dazu völlig deplaziert. Das ist ausnahmsweise als Kompliment gemeint. Als Musik ist sie nämlich immer noch stark.«
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