Am Ende des Tages wird das Gute siegen – meistens

Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) im Visier des Entführers (Florian Bartholomäi).
Besonders Charlotte Lindholm befindet sich nun im Visier des Entführers. Sie muss jetzt stark sein und ihre Nerven bewahren.  | Bild: NDR / Meyerbroeker

Frau Furtwängler, wo waren Sie am Sonntag, dem 29. November 1970, gegen 20:20 Uhr?

Bestimmt zu Hause in München. Vom ersten TATORT habe ich aber mit vier Jahren ganz sicher nichts mitgekriegt (lacht).

Tausendmal berührt – hat es bei Ihnen, als Zuschauerin, irgendwann einmal "Zoom" gemacht beim "Tatort"?

Noch als Kind. Ich habe zu früh meinen ersten "Tatort" gesehen, wahrscheinlich haben meine älteren Brüder nicht aufgepasst, dass die kleine Schwester da von hinten zusah. Ich weiß nicht mehr, welcher "Tatort" das war, aber er war furchtbar unheimlich. Es ist bis heute so geblieben, dass die Tatortmelodie bei mir dieses Sich-die-Haare-Aufstellen auslöst (lacht). Die kindliche Spannung zwischen "Ich würde das gern gucken" und "Ich halt das eigentlich gar nicht aus" lebt ja auch bei den meisten erwachsenen Zuschauern noch weiter.

Gibt es für Sie eine aktuelle oder ehemalige Lieblings-Ermittlerfigur beim "Tatort"?

Hansjörg Felmy als Kommissar Haferkamp fand ich gut. Der hatte so etwas tragisch Umwittertes, so eine männliche Melancholie. Später kamen starke Frauenfiguren dazu; als erstes Ulrike Folkerts im SWR-"Tatort", was mich sehr beeindruckt hat.

Inwiefern?

Es gibt kein vergleichbares Rollenprofil im deutschen Fernsehen, bei dem Frauen so viel Selbstständigkeit und Durchsetzungsvermögen zugestanden wird wie bei Kommissarinnen. Es ist das einzige Berufsfeld, wo Frauen problemlos ansagen dürfen, wo’s langgeht, wo wir tough und klug sein können, ohne dass wir am Ende dann doch noch für die große Liebe alle Ambitionen sausen lassen müssen.

Wie würde sich die Kommissarin Charlotte Lindholm in dem von Zigarrenqualm, Cognac im Dienst und eisernen Vorhängen bestimmten Polizeialltag zurechtfinden, wie er sich in der ersten "Tatort"-Folge "Taxi nach Leipzig" von 1970 präsentierte?

Ob ich zu rauchen anfangen würde, um mich irgendwie anzupassen oder überhaupt sichtbar zu werden? Charlotte Lindholm würde eher neue Netzwerke aufbauen, neue, inklusivere Arten finden, wie man miteinander zusammenarbeiten kann. Aber Charlotte mit einer dicken Zigarre ist dann doch eher schwer vorstellbar (lacht). Das Interessantere ist aber, dass damals bestimmt 90 Prozent der Darsteller Männer waren. Wenn eine Frau vorkam, spielte sie die Leiche, die Hausfrau oder die Sekretärin. Und so viel hat sich bis heute nicht daran geändert. Mindestens zwei Drittel der Rollen sind immer noch männlich – da liegt noch ein weiter Weg vor uns.

Im aktuellen Fall von "Taxi nach Leipzig" gerät Charlotte Lindholm unvermittelt in einen lebensbedrohlichen Alptraum. Wie geht sie damit um?

Kontrollverlust ist eine der unangenehmsten menschlichen Erfahrungen. Einerseits sehnen wir uns danach – Leute nehmen Drogen oder betrinken sich mit Alkohol –, andererseits ist es der absolute Alptraum, wenn jemand anderes uns komplett in der Hand hat. Für Charlotte ist diese Situation besonders prekär, weil sie ja jemand ist, der stets alles unter Kontrolle zu bekommen versucht: ihr Leben, ihre Gefühle.

Ein ihr unbekannter Kollege aus Kiel sitzt zufällig in derselben Falle – erleichtert oder kompliziert Borowskis Anwesenheit Charlottes Überlebensprogramm?

Charlotte ist viel abenteuerlustiger, viel mutiger als dieser Mann, der ihr vom Schicksal zugespielt wird. Er macht es ihr zunächst schwerer, obwohl sie schon auch froh ist, ihn neben sich zu wissen; Borowski macht ja später den entscheidenden Move. In ihrer Wahrnehmung würde sie aber zunächst alleine besser mit der Ausnahmesituation umgehen als mit diesem Klotz am Bein.

Die Zuschauer dürfen ein paar unerwartete Einblicke in Charlottes verborgene Seele erleben. Was gibt es dort zu entdecken bei einer Figur, die sich ungern in die Karten blicken lässt?

Der Blick darf tief gehen, das Unwohlsein bei Charlotte darf umso größer sein. Neue Einblicke ins Innere, auch für mich eine spannende Entwicklung. Zu entdecken gibt es in Zukunft sicher noch einiges.

Warum brechen Charlotte Lindholms Ängste erst richtig hervor, als ihr und Borowski die vorübergehende Flucht in ein abgelegenes Waldhaus gelingt?

Durch den Horror zuvor im Taxi sind ihre Abwehrkräfte geschwächt, sie ist verletzt, hat diese Wunde auf der Stirn. Dadurch haben die Dämonen der Kindheit Raum hervorzubrechen. Die große Angst bei Charlotte heißt Einsamkeit, heißt alleingelassen, heißt verlassen zu werden. Damit erklärt sich auch zum Teil ihre problematische Art, im Privatleben Beziehungen aufzubauen und auszuhalten.

Auf die Frage von Kommissar Borowski, was sie sich wünscht, nachdem alles überstanden ist, antwortet Charlotte Lindholm: "Dass wieder alles so ist, wie es sonst auch wäre." Was wird bei der Kommissarin hängengeblieben sein?

Der Satz stammt von unserem Autor und Regisseur Alexander Adolph. Ich mag ihn sehr, drückt sich darin doch eine kindlich-naive Erwartung aus: Die Wiederherstellung einer natürlichen Ordnung. Eine Ordnung, die sie als Kommissarin normalerweise mit einer Waffe und einer gewissen Polizeigewalt zu managen weiß. Sie war aber dieses Schutzmantels durch ihren Beruf als Polizistin vollkommen beraubt, war sozusagen nackt aller ihrer gewohnten Aktionsmechanismen. Mit dem Satz will sie ausdrücken: "Ich möchte wieder ‚in control‘ sein."

Gibt es, über die unmittelbare Folge hinaus, etwas beim Kollegen Borowski, was Charlotte Lindholm für ihren Job gerne von ihm übernähme?

Vielleicht die Lust und Fähigkeit, die Psyche der Gewalttäter tiefgründig zu erforschen.

Schlägt man den Bogen von der ersten zur tausendsten "Tatort"-Folge, fällt auf, dass sich ein einst unerschütterliches Gesetz entscheidend verändert hat: Die unantastbare Heldenfigur eines Kommissar Trimmel muss in der modernen Gestalt von Lindholm, Borowski und Co. inzwischen um das eigene Leben fürchten. Drohen die "Tatort"-Kommissare ihren gerechten Kampf um das Gute endgültig zu verlieren?

ch glaube nicht. Das Näherrücken des Bösen ist in erster Linie dem gewachsenen Anspruch geschuldet, komplexer erzählen zu wollen, nicht mehr so schwarz-weiß wie früher. Wir sehnen uns alle – ob als Zuschauer, Schauspieler, Autor oder Regisseur – nach dem erlösenden Moment, der für das Gute einsteht. Am Ende des Tages wird das Gute siegen – meistens.

Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit der "Tatort" auch noch nach der 2.000. Folge dieselbe Anziehungskraft haben wird wie heute?

Zu der Zeit, als ich beim "Tatort" anfing, kamen lauter neue Teams auf, bei denen sich die Leute fragten, "Oh Gott, wird der "Tatort" jetzt verwässert, verliert er seine Identität?“ Das Gegenteil war der Fall. Er hat sich seine Modernität bewahrt, weil er sich radikal geöffnet hat zu ungewöhnlicheren Erzählformen. Es gibt keinen Ort im deutschen Fernsehen um 20:15 Uhr, wo so vielseitig erzählt werden darf wie beim "Tatort". Das ist ja sexy, diese Mischung aus extremer Tradition, mit immer noch dem gleichen Vorspann, und der Experimentierfreude, sich auch einmal an neuen Formaten zu versuchen, siehe zum Beispiel den hessischen "Tatort" mit Ulrich Tukur. Wenn der "Tatort" diese Neugier beibehält, wer weiß, dann kann es gut und gerne noch lange so weitergehen.

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