Recht und Gerechtigkeit: Frage der Schuld nach Ahrtalflut
Das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Landrat Jürgen Pföhler hätte durch die Staatsanwaltschaft Koblenz nicht zwingend eingestellt werden müssen. Zu diesem Ergebnis kommt der inzwischen pensionierte Kölner Strafrechtsprofessor, Thomas Weigend, im Interview mit dem ARD-Politikmagazin REPORT MAINZ.
Inka Orth. Vor fast drei Jahren verlor sie ihre Tochter in der Ahrtalflut. Johanna. Sie war Konditormeister, 22 Jahre alt, lebte in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Beim letzten Telefonat mit ihren Eltern in der Flutnacht stand das Wasser schon in der Wohnung.
Inka Orth, Mutter von Johanna:
„Es war so eine Angst in ihrer Stimme und dann nicht weiter mit ihr sprechen zu können, die Anrufe gingen alle ins Leere, das war wirklich, wir sind eigentlich nur noch Amok gelaufen.“
Ralph Orth, Vater von Johanna:
„Das war natürlich der schlimmste Moment bis jetzt in unserem Leben.“
Ihrer Tochter hat die Familie ein Denkmal gesetzt. Nicht in Bad Neuenahr-Ahrweiler, aber in Hamburg. Eine Patisserie, wie sie es immer wollte. Eine Statue von Johanna sitzt mittendrin. Ihre Fotos überall präsent.
Inka Orth, Mutter von Johanna:
„Für uns ist sie natürlich dadurch immer da. Wenn ich manchmal auf die Bilder zulaufe, dann ist das für mich, als wenn sie mir zulächelt und sagt: Siehst du Mama, haben wir doch gut gemacht!“
Wunsch nach Gerechtigkeit
Ein Laden mit feinsten Süßspezialitäten - das war immer der Traum ihrer Tochter. Jetzt ist das neue Unternehmen ein Weg für die Mutter, mit all dem fertig zu werden, auch wenn sie eigentlich vor allem Gerechtigkeit will, dass jemand Verantwortung übernimmt. Für die Folgen einer der schlimmsten Naturkatastrophen der Bundesrepublik. 135 Menschen starben in den Fluten. Tausende verloren ihr Zuhause.
Er steht seitdem strafrechtlich im Mittelpunkt: der ehemalige Ahrweiler Landrat Jürgen Pföhler. Fast drei Jahre hat die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelt, unter anderem wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. Doch am Donnerstag entscheidet sie: Die Ermittlungen werden eingestellt. Die Ahrflut sei unvorhersehbar gewesen.
Mario Mannweiler, Staatsanwaltschaft Koblenz:
„Wir müssen, so schwierig das ist, von dem Gedanken uns lösen, dass solche extremen Ereignisse immer irgendwie einen strafrechtlich Schuldigen haben müssen. Manche Ereignisse geschehen einfach und sind von einem einzelnen Menschen nicht beherrschbar.“
Schwere Vorwürfe gegen Ex-Landrat
Keine Anklage - obwohl seine Schuld für viele Menschen so offensichtlich schien.
In der Einsatzzentrale war er am Abend der Flut fast gar nicht, kam nur für ein Pressefoto mit dem Innenminister zurück. Dem Katastrophenschutz soll er sich komplett entzogen, stattdessen, laut Zeugen, spazieren gegangen, seinen Porsche in Sicherheit gebracht haben. Und dieser Mann soll unschuldig sein?
Der Tag vor der Entscheidung. Inka Orth und ihr Mann Ralph suchen erstmals in dieser Woche die Öffentlichkeit. Sie sind potenzielle Nebenkläger. Dass das Verfahren eingestellt wird, ahnen sie zu diesem Zeitpunkt schon. Auch an diesem Tag beschuldigen die Orths den Ex-Landrat schwer. Und stützen das mit einem Video von Johanna - geschickt rund vier Stunden vor ihrem Tod. Zu hören: die Durchsage der Feuerwehr.
Feuerwehr Bad Neuenahr-Ahrweiler, 14. Juni 2021 (Durchsage):
„Achtung, hier spricht Ihre Feuerwehr. Halten Sie sich möglichst nicht in Kellern, Tiefgaragen oder tieferliegendem Gelände auf.“
Deshalb glaubt Johanna, sagen ihre Eltern, im Erdgeschoss sei alles sicher - wenige Stunden bevor eine Flutwelle ihre Wohnung und große Teile von Bad Neuenahr-Ahrweiler unter Wasser setzt.
Inka Orth, Mutter von Johanna:
„Man hätte die ganze Zeit, wo es noch hell war, die Menschen evakuieren können. Es wäre genügend Zeit gewesen.“
Ralph Orth, Vater von Johanna:
„In dem Moment war ja schon bekannt, dass einige Kilometer oberhalb von Bad Neuenahr, die Ahr hochwärts, waren ja schon katastrophale Zustände. (…) Wenn man weiß, hier kommt eine Katastrophe, dann gehe ich davon aus, dass ich den Menschen sage: Bringt euch in Sicherheit. Und wenn man das nicht tut, ist das, ich denke mal, auch der Grund der Ermittlungsverfahren, nämlich Tod durch Unterlassen.“
Staatsanwaltschaft klagt nicht an
Doch die Staatsanwaltschaft klagt für Versäumnisse in der Flutnacht niemanden an. Zwei Stunden dauert die Pressekonferenz. Es geht um die hohen Hürden des Rechts, die im Fall Pföhler nicht überschritten worden seien.
Mario Mannweiler, Staatsanwaltschaft Koblenz:
„…nämlich den Kausalitätsnachweis, also nachzuweisen, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch ein optimaleres Warnverhalten der Tod von Menschen vermieden worden wäre.“
Und das könne man bei keinem der 135 Toten nachweisen. Wirklich? Schließlich gibt es zumindest im Fall Johanna Orth Hinweise auf Fehler. Das Feuerwehrvideo - Sie erinnern sich. Spielte das für die Staatsanwaltschaft keine Rolle?
Wir schauen uns den Fall Johanna Orth noch einmal genauer an. REPORT MAINZ liegt der Einstellungsbescheid vor, also die konkrete Begründung. Darin wird das Video zwar genannt, auch dem Landrat wird grundsätzlich ein pflichtwidriges Verhalten unterstellt, doch zu Johanna halten die Staatsanwälte tatsächlich fest: Ob sie sich bei einer richtigen Warnung wirklich in Sicherheit gebracht hätte, könne nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Niemand soll schuld sein an Johannas Tod. Ihre Mutter kann das einfach nicht begreifen.
Inka Orth, Mutter von Johanna:
„Ich bin sehr verletzt. Und wenn man verletzt ist, tut das natürlich auch unendlich weh. (…) Herr Pföhler hat ganz, ganz viele Fehler gemacht, aber die werden alle außer Acht gelassen. (…) Das geht nicht in den Kopf eines Menschen, der für Gerechtigkeit ist, rein.“
Experte: Staatsanwaltschaft hätte auch anders entscheiden können
Wir treffen Thomas Weigend, Strafrechtsprofessor, mittlerweile im Ruhestand. Für uns prüft er den Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft Koblenz - für deren Entscheidung er Verständnis zeigt. Und trotzdem sagt er nach intensivem Aktenstudium:
Prof. Thomas Weigend, Universität Köln:
„Man hätte sicher in der Situation der Staatsanwaltschaft auch anders entscheiden können. In dem Fall wäre es für die Opfer sicher psychologisch von Vorteil gewesen, wenn noch einmal alles vor Gericht gebracht worden wäre, weil dort eben ein öffentliches Verfahren stattfindet und nicht wie das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wird.“
Gottlob Schober, Journalist REPORT:
„Und das wäre juristisch in Ordnung gewesen?“
Prof. Thomas Weigend, Universität Köln:
„Das hätte man juristisch gut vertreten können.“
Fassungslosigkeit über Staatsanwaltschafts-Entscheidung
Ob das aber wirklich zu einem Schuldspruch geführt hätte, sei alles andere als sicher. Recht und Rechtsempfinden lägen eben oft auseinander.
Das bestätigt sich auch Donnerstag in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Ein Seniorentreff, früher war das mal eine Fluthilfestation. Alles spendenfinanziert. Der Quasi-Freispruch für Jürgen Pföhler ist gerade bekannt geworden. Eindrücke kollektiver Fassungslosigkeit.
Anwohnerin:
„Wird nicht angeklagt? Das darf ja wohl nicht wahr sein.“
Anwohnerin:
„Also, Katastrophe. Ich kann es nicht begreifen. Es geht mir nicht in den Schädel.“
Anwohner:
„Müsste man doch wenigstens mal eine Verhandlung in Szene setzen - wenigstens das. Was daraus wird, ist das anderes. Aber von vornherein zu sagen, wir lehnen es ab, bin ich sehr enttäuscht.“
Christiane Thul-Steinheuer, Leiterin Seniorentreff:
„Es bleibt Frustration da. Und das führt sicherlich auch zu Politikverdrossenheit, wenn du weiter gehst.“
Auch Inka Orth empfindet das so. Sie und ihr Mann wollen trotzdem weiter machen, haben Beschwerde gegen die Staatsanwaltschafts-Entscheidung eingelegt. Damit irgendwann doch noch jemand zur Verantwortung gezogen wird - für den Tod ihrer Tochter Johanna.
Inka Orth, Mutter von Johanna:
„Johanna würde auch weiterkämpfen. Und das ist etwas, was wir unseren Kindern mit auf den Weg gegeben haben immer: dass wir als Familie einfach stark sind und dass man da sich für einsetzen muss.“
Stand: 24.04.2024 14:11 Uhr