Tod nach Narkose beim Zahnarzt – Risiko ambulante Anästhesie
Eine Vollnarkose sollte nur dann eingesetzt werden, wenn es unvermeidlich ist. Aber gerade für Kinder bieten viele Zahnarztpraxen diese als besondere Leistung an.
Gefährlich wird es, wenn Mindeststandards nicht eingehalten werden. Die Todesfälle von Sina-Mareen (3) und Emilia (4) zeigen, dass sich in den vergangenen 20 Jahren nicht viel verändert hat.
Text des Beitrags:
Eine sanfte Berührung - ein verblasstes Bild. Nur so können Claudia und Alexander Höfner ihrer Tochter heute noch nahe sein. Sina-Mareen wurde drei Jahre alt.
Sie starb nach einer ambulanten Vollnarkose beim Kinderzahnarzt in der Nähe von Würzburg - an einer Blutvergiftung. 22 Jahre ist das nun her.
Alexander Höfner:
„Also man braucht eine Weile, das zu kapieren, dass das endgültig ist. Das Kind kommt nie mehr.“
Claudia Höfner:
„Das kann man gar nicht in Worte fassen. Es ist, wie wenn man so von innen explodiert. Ich weiß nicht, ist das Schmerz, Angst, Wut, alles auf einmal. Und da möchte man einfach nur noch die Augen zumachen.“
Sina-Mareen starb, weil das Narkosemittel Propofol mit Bakterien verunreinigt war. Im Urteil heißt es später: Der Arzt habe "entgegen des Grundwissens eines Narkosearztes" das "Propofol für mehrere Patienten verwendet“. Dabei sei ihm "bewusst" gewesen, dass dies zu einem "septisch-toxischen Schock" führen könne. Außerdem sei Sina-Mareen in der Aufwachphase nicht ordentlich überwacht worden.
Claudia Höfner:
„Ich habe noch zu ihm gesagt, ich kann die doch so nicht mitnehmen. Die Sina war noch komplett betäubt. Also, die war noch nicht ansprechbar. Nichts.“
Fünf Jahre nach dem Tod von Sina-Mareen wurde der Anästhesist zu zwei Jahren auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Es dauerte ein weiteres Jahr, bis ihm die Zulassung als Arzt entzogen wurde.
Anästhesist zu 10,5 Jahren Haft verurteilt
Fast zwanzig Jahre später - ähnliches Schicksal, anderer Arzt. Auch hier, ein kleines Leben - ausgelöscht. Emilia starb in einer Zahnarztpraxis bei Frankfurt, ebenfalls nach einer ambulanten Vollnarkose für eine Karies-Behandlung. Vier Jahre alt war sie da. Auch ihr Tod, er wäre wohl vermeidbar gewesen.
Ihr Anästhesist soll medizinische Standards missachtet haben. Er wurde angeklagt. Anwältin Suna Tekbas hat Emilias Familie im Prozess vertreten.
Suna Tekbas, Anwältin:
„Man hat sein Kind eigentlich nur in eine normale Kariesbehandlung gegeben und ist ohne Kind quasi wieder aus der Praxis heraus und hat diesen Verlust. Ich glaube, das kann man nicht in Worte fassen. “
Drei Jahre hat das Verfahren gedauert. Am Freitag nun hat das Frankfurter Landgericht Emilias Anästhesisten verurteilt – zu einer Freiheitsstrafe von zehneinhalb Jahren. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Unter anderem soll der Arzt Emilia und drei weiteren Kindern auch hier ein verunreinigtes Narkosemittel, Propofol, verabreicht haben. Sie erlitten eine Blutvergiftung.
Dominik Mies, Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main:
„Der Angeklagte hat sich aus einem Propofol-Behältnis bedient, hat also aus einem Behältnis mehrere Spritzen aufgezogen, was gegen jegliche Hygienevorschriften verstößt und dementsprechend hat er nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst gehandelt.“
Gerne hätten wir mit dem Anästhesisten über die Vorwürfe gesprochen. Ein Interview lehnt er ab. Schriftlich teilt sein Anwalt mit, sie würden das Urteil zunächst sorgfältig prüfen.
Mindestens zehn tote Kinder nach ambulanten Narkosen
Rund 20 Jahre trennen die beiden Fälle - und doch sie ähneln sich sehr.
Wir fragen uns – wie oft kommt so etwas vor? Offizielle Zahlen zu Komplikationen oder Todesfällen gibt es nicht. Denn es gibt keine Meldepflicht. Doch unsere Recherchen zeigen: Neben Sina-Mareen und Emilia sind in den vergangenen Jahren mindestens zehn weitere Kinder nach Zwischenfällen bei ambulanten Vollnarkosen verstorben. Viele davon nach Zahnarztbehandlungen.
Für ihn ist all das kein Zufall. Prof. Uwe Schulte-Sasse. Der medizinische Gutachter und ehemalige Direktor einer Klinik für Anästhesie beobachtet immer wieder ähnliche Fälle - und zwar seit Jahren.
Prof. Uwe Schulte-Sasse, Gutachter:
„Das sind keine exotischen Einzelfälle. Da ist ein Muster da drin, was ich in meiner Tätigkeit als Sachverständiger über bald 20 Jahre wiederholt glaube zu erkennen. Da sind Hygienestandards nicht beachtet worden.”
Medizinische Mindeststandards sind entscheidend
Welche Standards sind entscheidend für eine sichere Vollnarkose? Das zeigen uns Anästhesistin Christiane Beck und Fachkrankenpfleger Patrick Flaspöhler in der Kinderklinik der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie bereiten die Narkose für ein kleines Mädchen vor.
Wichtig vor allem, die Hygiene – gerade beim Narkosemittel Propofol, das besonders anfällig für Keime sei:
Patrick Flaspöhler, Fachkrankenpfleger:
„Das Propofol ist dahingegen empfindlich, weil es eine fetthaltige Lösung ist und unsere Erreger, die so in der Umgebung unterwegs sind, mögen das sehr gerne. Deshalb ziehen wir das Propofol kurz bevor der Patient in den OP kommt auch erst auf. Und eine Verwendung für mehrere Patienten ist auf keinen Fall erlaubt.“
Sie arbeiten immer zu zweit, immer im Team.
Sauerstoff-Sättigung, EKG, Blutdruck werden durchgehend durch geeignete Geräte gemessen. Am Ende wird die kleine Patientin im Aufwachraum weiter lückenlos überwacht werden, um Komplikationen schnell zu erkennen.
Bei Sina-Mareen und Emilia war laut den Gerichten vieles davon nicht gegeben. Obwohl es in den Mindeststandards für die Anästhesie festgeschrieben ist. Sie gelten auch für ambulante OPs.
Dr. Christiane Beck, Wissenschaftlicher Arbeitskreis Kinderanästhesie:
„Wenn diese Mindeststandards nicht eingehalten werden, dann steigt das Risiko deutlich an und dann nehme ich das billigend in Kauf als verantwortliche Anästhesistin, dass diesem Patienten eben auch ein Schaden entstehen kann, weil ich es nicht rechtzeitig merke, dass ein Problem auftritt. In jedem dieser Fälle, wo das passiert ist, sind Standards nicht eingehalten worden. In jedem.“
Kontrollen in Praxen, ob die Mindeststandards eingehalten werden, gebe es allerdings nicht.
Dr. Christiane Beck, Wissenschaftlicher Arbeitskreis Kinderanästhesie:
„Wir kennen die Menge derer nicht, die sich da nicht daran halten. Die kennen wir natürlich nicht. Und möglicherweise sehen wir auch nur die Spitze des Eisberges.“
Lange Verfahren bis zum Berufsverbot
Fehlende Kontrollen. Dazu kommt: Bis ein Berufsverbot verhängt wird, dauert es mitunter lange.
Zwei Jahre bevor Emilia starb, erhielt seine Frau bei einem Mannheimer Zahnarzt eine Vollnarkose – vom gleichen Anästhesisten. Auch hier gab es Komplikationen. Linda Boller erlitt einen Herzstillstand, musste reanimiert werden. Doch erst Stunden später rief der Anästhesist den Rettungsdienst, der sie in eine Klinik brachte.
Carsten Boller:
„Dann bin ich in die Unimedizin mitgefahren. Und dann am selben Abend im Prinzip wo ich auf der Intensivstation mit war, haben die Ärzte eigentlich schon so eine erste Prognose abgegeben. Von da war eigentlich schon fast klar, dass es nicht besonders gut aussieht.“
Seine Frau starb in der Klinik.
Der Anästhesist wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Doch bis zur Rechtskraft vergingen nach Linda Bollers Tod rund zwei Jahre. Dann dauerte es nochmal drei Monate bis ein Berufsverbot erteilt wurde. In der Zwischenzeit verabreichte er Emilia und den anderen Kindern das verunreinigte Narkosemittel.
Die zuständige Approbationsbehörde teilt uns auf Nachfrage mit:
Hessisches Landesamt für Gesundheit und Pflege:
„Die Approbation wurde zum frühestmöglichen Zeitpunkt entzogen.”
Aber sie wurde erst entzogen als das Urteil rechtskräftig war. Diese Praxis kritisiert Tim Neelmeier. Er ist Richter am Landgericht Itzehoe und Spezialist für Arzthaftungsrecht. Er befasst sich schon seit mehreren Jahren mit ähnlichen Fällen.
Tim Neelmeier, Richter, Landgericht Itzehoe:
„Die Approbationsbehörde, die muss erstmal überhaupt an den problematischen Ärztinnen und Ärzten dran sein, muss erkennen, dass es dort eine Serie von Fällen gibt, und muss dann einfach reagieren mit einem einstweiligen Entzug der Approbation. Gar nicht erst das Hauptsacheverfahren abwarten, einfach vorläufig die Approbation entziehen.“
Die Realität sieht anders aus. Lange Verfahren bis zum Berufsverbot und keine Kontrollen.
Die Bundesregierung setzt auf ambulante Eingriffe – aber schafft sie auch die richtigen Voraussetzungen?
Das Bundesgesundheitsministerium weicht auf unsere konkreten Fragen aus, verweist allgemein auf „medizinische Leitlinien” und “Qualitätssicherung”. Konkreter wird man nicht.
22 Jahre ist der Tod von Sina-Mareen jetzt her. Dass sich ihr Schicksal bis heute wiederholen kann, macht ihre Eltern traurig.
Stand: 06.11.2024 14:33 Uhr