So., 22.01.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Argentinien: Arm trotz WM-Titel
In Argentinien liegt die Inflationsrate auf dem höchsten Stand seit Anfang der 1990er-Jahre, das Land gehört zu den Staaten mit der stärksten Teuerung weltweit. "Unsere Verantwortung und unsere größte Herausforderung besteht darin, die Inflation zu senken, denn sie ist das Fieber einer kränkelnden Wirtschaft", kommentierte der Wirtschaftsminister die Zahlen. Obwohl viele Preise von Lebensmitteln eingefroren wurden, leiden vor allem die Ärmsten. Dabei hatte eine Euphorie-Welle das Land erfasst, nachdem die Fußball-Mannschaft um Lionel Messi den WM-Titel gewonnen hatte.
"Cartoneros" sammeln Karton und Plastik
Zielstrebig und erwartungsvoll steuern Ani und Ezequiel den nächsten Müllcontainer an. Die beiden hoffen Pappkarton zu finden, möglichst viel. Was für die einen Abfall ist, ist für sie bare Münze. "Cartoneros" werden die genannt, die Karton und Plastik sammeln, um es später beim Recyclinghof zu verkaufen.
Für viele Argentinier sind Cartoneros der Bodensatz der Gesellschaft. "Ich sage: dreckige Hände, ehrliches Geld, so bringen wir es unseren Kindern bei", sagt Ezequiel. Knapp war das Geld schon immer, doch jetzt frisst ihnen die Inflation das kleine Einkommen weg. Fast 100 Prozent waren es im vergangenen Jahr. "Wir arbeiten jeden Tag. Wir müssen jetzt doppelt so viel arbeiten. Früher reichte eine Tüte für ein Essen. Jetzt brauchen wir zwei volle Tüten", erklärt Ani.
WM-Titel: Balsam für die Seele
Es ist Sommer und die Straßen in Buenos Aires sind drückend heiß. Doch gerade weht eine Brise, die Rückenwind gibt. Der Sieg bei der Fußball-Weltmeisterschaft im vergangenen Dezember, ist der Anstoß für eine Party, die drei Tage andauert. Fußballverrückt war das Land ohnehin, aber der Sieg löst doch eine unvergleichliche Euphorie aus – die bis heute anhält. Endlich – nach immer nur negativen Nachrichten: Pandemie, Finanzkrise, Inflation. Endlich passiert etwas Gutes, etwas, das Kraft gibt weiterzumachen. "Es war Balsam für die Seele. Die Inflation ist egal, die Regierung ist egal, Hauptsache wir haben drei Sterne", sagt Ezequiel. Ani ergänzt: "Es gibt uns Hoffnung. Wenn man kämpft, kann man gewinnen. Wir kämpfen. Die Jungs haben auch gekämpft und gewonnen."
Der Sack ist schnell gefüllt, mehr geht nicht rein. "Das ist ein Glücktreffer, alles an einem Ort – einfach Glück", sagt Ani. Mehr als 100 Kilo Extragewicht verträgt das Auto nicht. Umgerechnet etwa 15 Euro werden auf das Dach gebunden.
Fiorito ist ihre Heimat. In ihrem Viertel leben die meisten in Armut. Kriminalität ist ein großes Problem. Hier ist Maradona aufgewachsen. Einer, der sich von Armut zu Reichtum hochgekämpft hat. Ein geniales Schlitzohr, der Fehler machte und wieder aufstand. Einer von Ihnen, einer wie sie. Als Argentinien im WM-Finale der sicher geglaubte Sieg aus den Händen gleitet, bitte Ani Diego um Hilfe: "Ich sagte: 'Ay Maradona bitte, wo auch immer du bist, tu etwas. Sende uns deine Hand, einen Fuß, deinen Köper, egal was, aber verhindere das Tor.'"
Lebensunterhalt mit Fußball-Wetten verdienen
Nach dem Sammeln beginnt die richtig harte Arbeit. Der Müll muss sortiert werden. Dass wird noch tief in die Nacht gehen. Viele Fußball-Stars kommen aus Armenvierteln, weil sie von Kindesbeinen an kicken, weil es ein Ausweg ist. In der Nacht spielt in den Vierteln eine andere Musik. Teams messen sich in Turnieren, nichts Offizielles. Ganz legal ist es auch nicht. Franco verdient hier seinen Lebensunterhalt. In dem er und andere auf den Sieg wetten. "Früher habe ich gearbeitet und gespielt, aber ich verdiene halt hier mehr als mit einem festen Job." Die sogenannten Potreros sind die Wiege des argentinischen Fußballs. Hier lernst du hart zu kämpfen, den Gegner auszuspielen und vielleicht wirst du hier sogar entdeckt. "Die Gerissenheit, die Schamlosigkeit – die besten Spieler kommen von hier", sagt Franco. Er wurde tatsächlich mal angesprochen, doch zum Profi hat es nicht gereicht. Aber es reicht, um sein Kind zu ernähren, und der Finanzkrise zu entkommen. Franco ist ein lokaler Star - ein sicherer Job ist es aber nicht. "Ah, wir haben verloren, sie haben uns abgezogen. Macht nichts. Geld kommt und geht, wir wollten gewinnen, und haben es halt nicht."
Der Tag erwacht wieder und es ist drückend heiß in Fiorito. Ani und Ezequiel sind erschöpft. Sie haben den Müll bis drei Uhr nachts sortiert. Einfach mal ausruhen geht aber nicht, die Familie braucht jeden Peso. "Viele sehen nicht wie schwer das hier ist. Sie nennen uns Faulpelze. Sie sagen, es ist keine Arbeit. Aber doch. Und das ist jetzt meine Arbeit das Loch hier flicken", sagt Ezequiel. Gleich geht es raus zum Wertstoffhof - wer weiß, wieviel Geld sie rausbekommen. Aber für alles wird sich eine Lösung finden. Ani: "Wir haben so junge Weltmeister. Sie haben es geschafft. Warum sollte ich meine Ziele nicht erreichen? Mein Leben ist härter, aber ich habe ein Lebensziel, ich habe Kinder, meine Enkel, meinen Nachbarn. Alles ist möglich." Das Leben für sie ist schwerer geworden. Aber Ezequiel und Ani hadern nicht – niemals.
Autorin: Xenia Böttcher, ARD-Studio Rio de Janeiro
Stand: 22.01.2023 19:47 Uhr
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