So., 28.11.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Belarus: Der zynische Umgang mit Migrant*innen
Viele der Migrant*innen, die seit Wochen in den Wäldern an der Grenze von Belarus zu Polen campiert hatten, sind inzwischen in einem Logistik-Zentrum untergebracht worden. Die belarussischen Behörden haben sie benutzt, um politischen Druck auf die EU und vor allem auf Polen auszuüben.
Migrant*innen versuchen, den Grenzzaun von Belarus aus zu überwinden. Im Hintergrund: belarussische Sicherheitskräfte. Sie spielen bei der Schleusung in die EU offenbar eine wichtige Rolle – fast jeden Tag veröffentlicht Polens Grenzschutz solche Bilder.
Brusgi, auf der belarussischen Seite. 1.800 Migrant*innen sind seit fast zwei Wochen in dieser Lagerhalle untergebracht. Hier erzählen sie uns, dass belarussische Grenzsoldaten weiterhin Flüchtlinge Richtung EU begleiten. "Ein belarussischer Soldat hat hier zu mir gesagt: 'Willst du nach Polen?' Ich hab ihn gefragt: 'Wie?' Und er sagte: 'mit GPS'. Ich hab geantwortet: Nein, es schneit draußen, es ist zu kalt. Ich kann das jetzt nicht machen", erzählt Amir. Weitere Migrant*innen im Lager bestätigen uns, dass sie von Grenzsoldaten angesprochen wurden. Viele haben aber Angst das vor der Kamera zu wiederholen. Denn in den vergangenen Wochen haben die Migrant*innen nicht nur Hilfe beim Grenzübertritt erfahren, sondern auch Gewalt von belarussischen Soldaten.
Den belarussischen Soldaten ausgeliefert
Karar, zum Beispiel: Der 27-jährige Iraker hat es nach Deutschland geschafft, ist jetzt in Berlin. Eigentlich hatte er seine Flucht schon abgebrochen und wollte zurück nach Minsk, als belarussische Grenzschützer ihn mit anderen Migrant*innen in einer Panzerwerkstatt festhielten. Er erinnert sich: "In der Nacht haben sie uns in einen großen Militär-Lkw verfrachtet und an die polnische Grenze gebracht. Wir wollten nicht mehr weiter. Sie haben uns aber angeschrien und geschlagen – und mit Gewalt Richtung Polen geschubst. Sie sagten: Es gebe kein Zurück mehr für euch Flüchtlinge. "Entweder schafft ihr es nach Europa oder ihr sterbt hier an der Grenze." Mit einem Bolzenschneider hätten die belarussischen Soldaten den Grenzzaun aufgeschnitten, erzählt Karar. "Nachdem wir hier in Deutschland angekommen sind, haben wir verstanden, dass wir eine Art Waffe für Belarus waren, um Druck auf die EU auszuüben. Aber wir hatten keine Wahl. Wir waren denen ausgeliefert."
Die Menschen im Lager in Belarus schildern uns ähnliches. Fast alle hier sind Teil einer Gruppe von etwa 2.000 Personen, die gemeinsam Richtung Grenze marschiert sind. Organisiert hätten sich die Migrant*innen selbst über eine Telegram-Gruppe, erzählen sie uns. Am 16. November flogen Steine in Richtung polnischer Grenzschützer. Belarussische Soldaten haben die Migrant*innen zumindest dazu angestachelt, wird aus Gesprächen im Lager klar. Denn den Migrant*innen war kalt, zurück Richtung Minsk wollte man sie nicht lassen. Zanyar Dishad Yousif erzählt: "Sie haben uns gesagt: 'Wir lassen euch nur zurück, wenn ihr die da angreift!' Die Welt denkt jetzt, dass wir Kriminelle sind, weil wir angriffen, aber wir waren nicht diejenigen, die wirklich angegriffen haben. Wir wurden dazu gezwungen."
Zuständig für Weißrusslands Machthaber Lukaschenko in diesem Gebiet ist Jurij Karajew. Früher als Innenminister hat er die Proteste der Opposition niederknüppeln lassen. Von einer Beteiligung belarussischer Sicherheitskräfte an Schleusungen will er nichts wissen: "Als die Migrant*innen versucht haben, die Grenze am Grenzübergang zu überqueren, wurden sie abgedrängt und haben sich in den Wälder und Grünflächen verteilt. Das ist alles." Sein Chef, Lukaschenko, räumt in einem interview mit der BBC ein: Seine Sicherheitskräfte könnten Migrant*innen geholfen haben: "Es kann sein, dass jemand geholfen hat. Aber ich werde mir das nicht genauer anschauen." Schweigen zur Verantwortung der Sicherheitskräfte in Belarus. Für die Migrant*innen ist die Krise hier noch lange nicht vorbei. Tausende sind noch im Land – und weiter belarussischen Soldaten ausgeliefert.
Litauen: Abschreckung durch einen Grenzzaun
Ortswechsel. Zu Gast in Litauen. An Europas Ost-Grenze steht jetzt ein Zaun. Ein Zaun, der die Migrant*innen aufhalten soll und Kameras über viele Hunderte Kilometer. Damit sie nicht in die EU kommen. Wird hier gebaggert. Der Grenzposten Druskininkai. Eine Delegation aus der Hauptstadt Vilnius will sich hier ein Bild der Lage machen. Die Mitglieder des Ausschusses für nationale Sicherheit sind gekommen. Der Chef des Grenzschutzes, Rustamas Liubajevas, erklärt den Abgeordneten stolz die eilig errichtete Anlage. Hier haben sie die Grenze immer im Blick: "Manchmal gibt es auch Tiere in dem Abschnitt. Wenn es aber eine Person oder ein Auto ist, das versucht, illegal die Grenze zu passieren, koordiniert der Einsatzleiter das weitere Vorgehen und schickt Beamte, um die Gruppe oder die Person zu entfernen."
Seit zwei Wochen gilt in Litauen der Ausnahmezustand. Die 680 Kilometer lange Grenze ist Sperrzone. Für den Besuch aus der Hauptstadt Vilnius macht der Grenzschutz eine Ausnahme. Auch wir dürfen deshalb filmen. Ein hoher Zaun dient als Abschreckung – ein wichtiges Symbol, sagen sie hier. "Ich finde, es ist keine Barriere gegen die freie Welt. Es ist eine gegen die autoritären Länder, die die freie Welt zerstören wollen. Dieser Zaun schützt unsere Werte und Demokratie vor dem Lukaschenko-Regime", erklärt Laurynas Kasčiūnas, Vorsitzender des Aussschusses für nationale Sicherheit und Verteidigung.
Mehrere Tausend Migrant*innen sind bereits aus Belarus nach Litauen gekommen. Wer nicht zurückgeschickt wurde, landet in diesem ehemaligen Gefängnis in Kybartai Insassen schicken uns Fotos. Viele Männer auf engstem Raum. Sie bekommen das Nötigste, sagen sie uns, aber es fehle an warmen Decken und medizinischer Versorgung. Litauens Regierung beteuert, die Migrant*innen gut zu behandeln. Macht aber auch keinen Hehl daraus, dass sie nicht erwünscht sind. Wer aufgegriffen wird, bekommt eine Notverpflegung. Das sollen diese Bilder des litauischen Grenzschutzes belegen.
Journalisten berichten aber, dass es in der Grenzregion auch mal rabiater zugehen kann. Vor ein paar Wochen durfte der Journalsit Vidmantas Balkūnas noch Bilder machen, mittlerweile lassen ihn die Behörden nicht mehr an die Grenze. "Es heißt, dass mehr als 7.000 Migrant*innen mit "Push backs" aus Litauen zurück nach Belarus gedrängt wurden. Aber keinem Journalisten ist es gelungen, dies mit eigenen Augen zu sehen oder zu dokumentieren."
Der Zaun soll im Herbst nächsten Jahres fertig sein. Auch dann noch – so fürchten sie hier – wird Machthaber Lukashenko Migrant*innen über die Grenze schicken.
Autoren: Christian Blenker, Amir Musawy, Demian von Osten, ARD-Studio Moskau/ARD-Studio Stockholm
Stand: 28.11.2021 20:27 Uhr
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