So., 28.07.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Frankreich: Paradies Fos-sur-Mer in Gefahr
Etwa 50 Kilometer nordwestlich von Marseille liegt Fos-sur -Mer, direkt am Mittelmeer. "Klein Venedig" nennen die Menschen ihre Heimat, aber viele können sich an der Einzigartigkeit dieser Küste nicht mehr erfreuen. Denn Frankreichs größte Industriezone liegt direkt hier am Mittelmeer. Inzwischen produzieren 200 Fabriken, mehr als 40.000 Arbeitsplätze sind entstanden. Es ist eine trügerische Idylle.
Bernard Huriaux kennt hier jede Bucht. Er liebt dieses Meer. Hier hat er sein halbes Leben verbracht. Hier hat er gearbeitet. "Ich finde es wunderschön, es gibt nicht viele solcher Orte – aber gleichzeitig ist es die Hölle hier: es stinkt, es gibt Staub und so weiter.“
Erhöhte Krebsrate in "Klein-Venedig"
Riesige Rauch-Säulen, monumentale Produktions-Anlagen: Das Paradies ist zerstört. Raffinerien, Chemie, Metall: ein gigantischer Komplex. Bernard hat über 40 Jahre bei Arcelor-Mittal gearbeitet, ein weltweit agierender Stahl-Gigant. Trotzdem: Bernard ist entschlossen: Er wird gegen seinen früheren Arbeitgeber klagen: "Haben Sie den Schlot gesehen? Der Rauch enthält Dioxin, Furane und Schwefeldioxyd, außerdem Benzo – alles hochgradig krebserzeugend: Blasenkrebs, Leukämie, Magenkrebs, Hodenkrebs."
Lange war das hier kein Thema. Die Menschen leben mit der Industrie am Meer, seit Jahrzehnten. Bernard ist 72 und ständig unterwegs: Er engagiert sich im Umweltschutz, spricht mit den Leuten. Das Leben kann hier sehr beschaulich sein. "Klein-Venedig" nennen sie den Ort – nur ein paar Kilometer entfernt vom Industriegebiet. Bernard ist auf dem Weg zur Gewerkschafts-Sitzung, früher war er Betriebsrat. Auch jetzt kümmert er sich noch um Berufserkrankungen, hört sich die Schicksale der ehemaligen Kollegen an. "Ich hatte Krebs und mein Arzt sagte mir: Sie sind einer von vielen Fällen hier in der Gegend. Das seien Erkrankungen die von Benzol verursacht werden. Er sehe das häufig hier", erzählt ein Mann. Ein anderer ergänzt: "Ecocitoyen hat sich mit unseren Problemen beschäftigt. Das ist ein anerkanntes Institut. Sie haben gezeigt, daß es hier in der Region Fos eine erhöhte Anzahl von Krebs gibt. Das ist bewiesen."
Im Institut Ecocitoyen leitet Julien Dron die Untersuchungen. Der Chemiker analysiert Wasser- , Luft und Bodenproben aus Fos-sur-Mer. Studien zeigen: Hier ist die Zahl der Krebserkrankungen im Schnitt doppelt so hoch wie im Rest Frankreichs. Gibt es also einen Zusammenhang zwischen den hohen Krankheitsraten und der Industrie? Beweisen kann er das nicht.
Es riecht am Strand nach Chemie
Dron kratzt Flechtenproben von den Bäumen – Flechten leben von Luft und sind ein guter Indikator für Umwelt-Verschmutzung: "Man sieht an den Flechten: Je näher man der Industrie kommt, desto höher die Schadstoffkonzentration. Wir haben zum Beispiel mehr Blei im Blut der Einwohner von Fos-sur- Mer gefunden, als bei denen, die 25 Kilometer entfernt wohnen. Das gilt auch für zwei Dioxine."
Sommerfreizeit in Fos-sur-Mer – im Schatten der Industrie. Es riecht nach Chemie. Die Kinder kommen schon morgens zum Strand. Die Eltern arbeiten in den Fabriken. Das ist seit Generationen so. Früher machte man sich keine Gedanken über die Umwelt, und heute? "Ja, klar haben wir hier ein Umweltproblem, Luft und so weiter. Aber wir bleiben hier, das ist unser Lebensumfeld hier, und wir lassen unsere Kinder den Strand genießen", sagt en Vater.
Dany Moutet hat sich mit der Industrie angelegt. Er hat Untersuchungen in Auftrag gegeben und Sammel-Klagen organisiert. Früher hat er selbst in der Petrochemie gearbeitet, heute ist der wichtigste Umweltaktivist der Region: "Die Industrie muss Geld in die Hand nehmen und Verantwortung übernehmen, um die Verschmutzung zu reduzieren. Wir müssen leben, arbeiten und atmen können. Es ist ja schön , Arbeit zu haben – aber nicht um zu sterben."
Eine der schönsten Küsten Frankreichs zerstört
Arbeiten um zu Leben – das war die Verheißung. Daran hat Bernard auch geglaubt. Heute weiß er es besser: die Industrie-Giganten in Fos-sur-Mer expandierten mit aller Macht. Lange, ohne Rücksicht auf Verluste. Beim Industrieverband versucht man zu beschwichtigen. Vieles habe sich geändert, weniger Schadstoffe sei ein echtes Anliegen: "Ja, es ist uns bewusst, dass wir einen schlechten Ruf haben. Und die Industrie weiß, dass sie dafür selbst verantwortlich ist. Wir haben aber auch wirtschaftliche Verantwortung in dieser Region. Unser Ziel ist ein vernünftiges Zusammenleben aller hier", erklärt Marc Bayard, stellvertretender Vorsitzender des Industrieverbands GMIF.
Zurück zu Bernard Huriaux: Bernard und seiner Frau Jacqueline sind Anfang der 1970er-Jahre wegen der Arbeit ans Meer gezogen. Damals träumten sie vom Leben im Süden, einem eigenen Haus am Mittelmeer: "Wir waren noch so jung, wir dachten, wir kriegen hier gute Jobs. Wir waren 25, hatten zwei kleine Kinder, wir sahen zuerst nur das Positive", erinnert sich Jacqueline Huriaux. Sie ist wütend: Auf die Industrie, auf die Politik. Beide haben heute keine Illusionen mehr: "Die Politiker haben Angst, daß der Umweltschutz Arbeitsplätze vernichtet. Deswegen stellen sie sich tot und tun nichts," Bernard Huriaux.
Der Preis: Eine der schönsten Küsten Frankreichs ist unwiederbringlich zerstört.
Autorin: Sabine Rau, ARD-Studio Paris
Stand: 29.07.2019 10:13 Uhr
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