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Großbritannien: Notstand in der Notaufnahme – Gesundheitssystem vor dem Infarkt

Großbritannien: Notstand in der Notaufnahme | Bild: picture alliance / empics

Andrew Claridge wartet. Seit Tagen. Seit Wochen. Dabei hat der 50-Jährige keine Zeit zu warten. Er hat Krebs. Prostata-Krebs. "Es überlagert all meine Gedanken. Ich will einfach nur, dass er rausgenommen wird. Lieber heute als morgen", sagt er. Andrews Eltern sind beide an Krebs gestorben. Die Angst sitzt tief. Aber seine Operation wird verschoben, gestrichen. Schon zwei Mal in diesem Winter. Per E-Mail hat das Krankenhaus in Leeds ihn und seine Partnerin informiert. Einen Tag vor der Operation. Der Grund: Kein freies Krankenhausbett.

Dramatische Situation in den Krankenhäusern

Andrew Claridge
Andrew Claridge hat Krebs und wartet auf seinen Operationstermin. | Bild: NDR

"Das hat mich umgehauen", erzählt er. "In der E-Mail haben sie nur geschrieben, dass sie nach einem neuen Datum Ausschau halten, das war's. Kein 'Machen Sie sich keine Sorgen' oder irgendwas beruhigendes. Für nette Worte hat das Krankenhaus keine Muße. Es hat schlichtweg gar keine Zeit und vor allem eben keinen Platz. Hier wie in fast allen anderen Krankenhäusern des Landes ist in diesem Winter der Notstand ausgebrochen. Die Betten sind im Durchschnitt zu 95 Prozent ausgelastet.

Mehrfach in der Woche gilt "Code Red"

Szenen einer BBC-Dokumentation zeigen, wie dramatisch die Situation in den staatlichen Krankenhäusern ist. Mehrere Wochen konnte der britische Sender exklusiv den Betrieb begleiten. In einem der größten staatlichen Krankenhausverbunde.

Jeden Morgen schalten sich die fünf Londoner Krankenhäuser zusammen, auf der Suche nach einem freien Bett. Mehrfach in der Woche gilt "Code Red": Das heißt, das Krankenhaus ist voll ausgelastet. Ärzte können dann nicht operieren. Sie müssen warten, bis ein Patient das Krankenhaus verlässt. Bei einer kurzen Lagebesprechung heißt es: "Wir haben immer noch keine Erlaubnis zu beginnen, weil noch nicht klar ist, ob ein Bett frei ist. Das Problem ist, es ist eine dreistündige Operation, es ist Krebs, und uns läuft die Zeit davon. Aber das wissen Sie." Doch alles Wissen hilft nichts.

Die Zeitungen sprechen von den schlimmsten Wochen seit 15 Jahren für den National Health Service (NHS), den staatlichen Gesundheitsdienst. Jeden Tag neue Schlagzeilen, über fehlende Betten, gar über Tote. Eine Frau starb an einem Herzinfarkt, nachdem sie 35 Stunden auf einer Trage in einem Gang lag.

"Gesundheitssystem Teil unserer Solidarität"

Clare Gerade
"Das NHS ist mehr als nur ein Gesundheitssystem", sagt Hausärztin Dr. Clare Gerade. | Bild: NDR

Chaos, Krise, Notstand. Dabei war das nationale Gesundheitssystem, mit seiner kostenlosen Versorgung für alle Inselbewohner, einst der ganze Stolz der Briten. "Es ist Teil unserer Solidarität, unserer Sozialgeschichte", sagt Hausärztin Dr. Clare Gerade. "In unserem Land ist das NHS mehr als nur ein Gesundheitssystem. Es bindet uns zusammen. Wenn wir unser Gesundheitssystem verlieren, ist das einzige was uns dann noch bleibt die Königin. Und unsere Englische Nationalmannschaft. Und bei der sieht man ja, was die für uns tut."

Clare Gerade arbeitet als Hausärztin. Und auch ihr Terminkalender ist überbucht. Trotzdem fordert die Regierung, dass Hausärzte künftig sieben Tage und zwölf Stunden am Tag ihre Praxis öffnen. So will die Regierung die Notfallaufnahmen der Krankenhäuser entlasten. Völlig unrealistisch sei das, meint Clare Gerade. "Wir haben jetzt schon viele Burnouts. Das Problem ist einfach, dass uns die Regierung nicht genügend Geld zur Verfügung stellt, um einen Erste-Klasse-Gesundheitsdienst zu liefern. Wir haben zwar in den letzten Jahren eine Erhöhung erhalten, aber wenn man sich die Anforderungen anschaut, die eine alternde Gesellschaft braucht, dann reicht das hinten und vorne nicht."

Kann künstliche Intelligenz Arztbesuch ersetzen?

Ali Parsa
Ali Parsa setzt auf künstliche Intelligenz, um die Notaufnahmen zu entlasten. | Bild: NDR

Die Gründer eines Start-up-Unternehmens sehen das Hauptproblem nicht im fehlenden Geld, sondern in der behäbigen und aufgeblasenen Struktur des Gesundheitssystems. Ali Parsa hat mit seinem Team eine App entwickelt, die den Hausarzt ersetzen soll. Und so funktionierts: "Mein Kopf schmerzt", sagt der Patient. "Das tut mir leid. Haben Sie Probleme beim Sehen?", antwortet die App. "Nein." "Viele gehen direkt in die Notfallaufnahme, dabei wollen sie nur einen Ratschlag von einem Doktor", sagt Unternehmensgründer Ali Parsa. "Das geht auch über ein Video-Telefonat. Viele Patienten wollen sich auch nur rückversichern, und das geht auch über künstliche Intelligenz."

Verzweifeltes Warten auf den OP-Termin

Untersuchung per Roboter. Ohne physischen Kontakt. Für manche Diagnosen mag das ausreichen. Wer wirklich krank ist, wie Andrew, dem das bringt wenig. Der Krebskranke braucht keine Beratung. Er braucht einen Operationstermin. "Du kannst nichts mehr planen. Du bist einfach nur am Tiefpunkt. Und hast das Gefühl, es geht keinen Zentimeter nach vorne", sagt er. "Das einzige worauf du wartest, ist dieser eine Anruf."

Autorin: Julie Kurz, ARD-Studio London

Stand: 13.07.2019 19:46 Uhr

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