So., 27.09.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Japan: Ein Dorf verjüngt sich
Noch vor zwei Jahren hieß es, das älteste Dorf Japans sterbe aus. Nanmoku liegt in den Bergen, nur 100 Kilometer von der Mega-Metropole Tokio entfernt. Die Dorfgemeinschaft wurde immer älter, die Jüngeren zogen alle weg. Nun aber kündigt sich eine Wende an.
Von Tokio in "Japans Dolomiten"
Wäre er in Tokio geblieben – Yuta Sato hätten sich die Freuden der Landwirtschaft wohl nie offenbart: Schweiß, Schmerzen, schmutzige Hände: "Nein, niemals hätte ich gedacht, dass ich selbst zum Bauern werde. Ich dachte, ich würde vielleicht bei einer Hilfsorganisation mitmachen. Aber das hier? Nein."
Vor zwei Jahren tauscht Sato die größte Metropole der Welt gegen ein Kaff. Tokio hatte er satt. Jetzt also Berg und Tal in Gunma – auch als die "Dolomiten Japans" bekannt. Satos Auftrag: Entwicklungshilfe für Nanmoku, das "ergrauteste" Dorf des Landes, Zweidrittel hier sind älter als 65. Das ist Rekord.
Um Jüngere ins Dorf zu locken, zahlt der Staat Lohn und Logis – auch Sato, drei Jahre lang. Der muss dann für alle ran, zum Beispiel Shisomaki im Rasthof an der Durchgangsstraße kneten. Anschluss ist dann zwischen Misopaste, Mochi-Brötchen und Kartoffelsalat garantiert. "Wir waren ganz offen zu ihm und haben uns schnell angefreundet, stimmt's? Und dass er seine Freundin geheiratet und sie hier sogar ein Baby gemacht haben, das ist das Größte", sagt der 74 Jahre alte Tsuyako Koganezawa.
Nanmoku sucht dringend Nachwuchs
Sato hilft, wo er kann: Küche, Kasse oder anderen Landwirten bei der Arbeit. Satos Verbindungsmann im Staatsprogramm ist der Bürgermeister. Es ist ein täglicher Spagat: junge Leute rekrutieren, aber "Generation Silber" nicht ignorieren: "Momentan gibt es sechs, sieben Leute im Dorf, die sind über 100 Jahre alt. Man lebt hier wirklich lange. Wir untersuchen die Menschen, testen ihre körperliche Gesundheit und die geistige. Wenn sie schwächeln, steuern wir gegen, auch mit kognitivem Training. Damit beschäftige ich mich gerade“, erklärt Saijo Hasegawa, Bürgermeister von Nanmoku.
Gute Luft, Bewegung, gesunde Ernährung. Sato sagt, die Alten seien top in Schuss. Anfangs düste er mit Ehefrau durchs Dorf, doch die ist seit der Geburt der Tochter für ein paar Monate bei den Schwiegereltern – das ist so üblich in Japan. Der Gatte stellt um auf Selbstversorger und genießt die Vaterschaft mittels Videochat: "Als es hieß, die Leute in Tokio und anderswo sollten wegen Corona zuhause bleiben, hab ich die beiden einen Monat lang nicht gesehen. Bei der Geburt war ich deshalb auch nicht dabei, das war wirklich schade."
Nachwuchs dringend gesucht: 10.000 Menschen lebten mal in Nanmoku, heute sind es 1.800. Früher wurde mit Landwirtschaft Geld verdient, doch das ist vorbei. Die Jungen gingen, die Alten blieben. Die staatlich geförderte "Entwicklungs-Kooperative" verschafft Sato ein Plätzchen im Rathaus – mit stabilem Internet.
Freund und Kollege Takafumi Ohno wurde in Nanmoku geboren. Er ist zurückgekehrt und auch er kämpft um sein Dorf: "Man muss die Menschen respektieren, die schon immer hier gelebt haben, das ist wichtig. Aber die Ansichten von Newcomern bringen frischen Wind. Sie haben andere Verbindungen und Netzwerke. Das kann nützlich sein, und wir sind für jede Idee dankbar."
Seniorenheim und "Kennenlern"-Programm für Stadtkinder
Die erste war ein Seniorenheim: Das schafft Arbeitsplätze, und die Großeltern sind gut versorgt. Die zweite Idee: Ein "Kennenlern"-Programm für Stadtkinder, um die schon früh fürs Dorfleben zu begeistern. Dies und das diskutieren Sato und Ohno auf dessen Holz-Veranda. Ohno hat neu gebaut, das gab es seit Jahren nicht mehr. Und: Auch hier ein Baby – das Symbol für eine gute Zukunft: "Als wir in Yamagata lebten, hatten wir nie das Gefühl, für etwas zu arbeiten – für das Wohl des Dorfes oder Ähnliches. Hier ist es, als ob alles, was wir tun, dem Dorf zugute kommt. Wie soll ich sagen, wir fühlen uns näher dran", sagt Ohnos Ehefrau Saori.
Für Yuta Sato geht's bergauf: Ein Jahr noch unterstützt ihn der Steuerzahler, dann muss er finanziell auf eigenen Beinen stehen. Und ein preisgekrönter Blumenzüchter möchte ihm das ermöglichen. Herr Ito ist Satos Mentor. Sato wird den Betrieb übernehmen. "Ich denke, es könnte was werden mit ihm, ich behalte ihn im Auge, bleibe aber möglichst auf Abstand und gebe nur Ratschläge. Er muss nur entschlossen weitermachen. Ein paar Schwächen hat er nämlich noch", erzählt Shinicho Ito.
In Satos Händen könnte die Blumenzucht weiter gedeihen. Er ist fest entschlossen, hier Wurzeln zu schlagen: "Es war eine gute Entscheidung. Ich stehe morgens auf und sage: 'Heute wird’s sonnig oder: Heute gibt's Regen'. Einfach nur aufs Wetter schauen und arbeiten – mich macht das glücklich." Unser Dorf soll jünger werden – ein Wettlauf mit der Zeit. Doch Yuta Sato verkörpert Hoffnung für Nanmoku – das Juwel in Japans Dolomiten.
Autor: Uwe Schwering, ARD Tokio
Stand: 01.10.2020 20:12 Uhr
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