So., 24.03.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Wie Lettland vom Brexit profitieren will
Der Brexit sorgt für Diskussionen, auch bei vielen Letten, die nach Großbritannien ausgewandert sind. Bietet das Vereinigte Königreich noch eine Zukunftsperspektive ohne die EU? Wie willkommen sind die Letten überhaupt noch auf der britischen Insel? Wegen der Unsicherheiten planen immer mehr eine Rückkehr in die Heimat.
Verunsicherung durch Brexit-Referendum
Edgars Kronbergs ist zurück in Riga. Er hat den Schritt in die Heimat schon hinter sich. Sieben Jahre hat er in England gelebt und studiert. Nun ist er hier bei einer lettischen Baufirma gelandet. Der Tag des Brexit-Referendums hat sein Leben verändert: "Ich war geschockt. All das, wovor viele gewarnt haben, wurde plötzlich konkret: die wirtschaftlichen Veränderungen, die mich als Student aber als künftiger Arbeitnehmer treffen würden. Das alles hat bei mir zu der Entscheidung geführt, zurück nach Lettland zu gehen."
Sein Traum war, in der britischen Automobilindustrie zu arbeiten. Jetzt leitete er die Buchhaltung der Baufirma. Für ihn war der Schritt zurück eine Art Zeitreise: "Das erste halbe Jahr oder Jahr war ich nicht sicher, ob ich wirklich die richtige Entscheidung getroffen habe. Aber danach ist für mich alles immer klarer geworden. Ich sehe meine Zukunft hier und nicht in irgendeinem anderen Land."
Auch Oskars Tutins hat Großbritannien verlassen, hat sein Auto mit auf die Fähre genommen und ist nach Lettland zurückgekehrt. Die Unsicherheit, nicht mehr in der EU zu sein, war ein Grund für seine Rückkehr. In England hatte Oskars zuletzt einen kleinen Gartenbaubetrieb. Nun will er neu anfangen. Er hat sich über Facebook mit einer Gärtnerin verabredet. Avita pflegt mit ihren Mitarbeitern das Gelände des einzigen Croquet-Clubs von Riga. Von ihr will er sich Tipps holen. Aber im lettischen Schneeregen bekommt er Zweifel, ob das so eine gute Idee ist. "Hier ist die Saison viel kürzer. Im Süden England war die Saison zehn Monate. Wir haben erst kurz vor Weihnachten mit dem Rasenmähen Schluss gemacht und schon im Februar wieder angefangen. Schwer zu verstehen, wie man hier im Winter überlebt. Ich kann kaum glauben, dass man als Gärtner in Lettland existieren kann. Und auch bei der Bezahlung gibt es große Unterschiede."
Anfeindungen gegenüber Ausländern
In Großbritannien leben 100.000 und 150.000 Letten. Gute Lohne und eine feste Arbeit hatten sie nach dem EU-Beitritt und der Finanzkrise auf die Insel gezogen. Aber ob ihre Kinder nun auch hier aufwachsen werden?
Sonntags ist im Lettischen Haus in London Schulunterricht. Die eigene Sprache, die eigene Kultur, die eigenen Lieder – sie sind für die Letten die wichtigste Verbindung in die Heimat. Das "B-Wort" sorgt seit Monaten für Unruhe. Der Brexit macht vielen Letten Sorge. Was ist mit ihren Renten? Was ist mit ihrem Aufenthaltsstatus? Bei einem Empfang in der Botschaft sprechen sie mit ihrem Außenminister auch über die Stimmung gegenüber den Ausländern im Land. Sie habe sich verändert, sagen viele. "Das Referendum hat Seiten der Briten zum Vorschein gebracht, die ich vorher noch nie erlebt habe. Dass einige ganz offen mit Anfeindungen auf Leute zugingen, die nicht die gleiche Sprache sprechen, die nicht die gleiche Hautfarbe haben wie sie. Ich finde das wahnsinnig traurig", erzählt Lilija Zobens.
Der lettische Außenminister, Edgars Rinkevics, ist extra nach London gereist. Auch um Werbung zu machen, für eine Rückkehr nach Lettland. Es sieht im Brexit auch eine Chance: "Ich würde sagen, dass der Brexit vielleicht auch etwas Gutes hat, dass nämlich viele Letten begonnen haben darüber nachzudenken, was sie machen wollen, wenn Großbritannien die EU verlassen hat. Und vielleicht werden manche einen zweiten Blick auf ihre Heimat werden und die Möglichkeit in Betracht ziehen, zurückzukehren.“
"Mit Welterfahrung in Lettland": Hilfe für Rückkehrer
Aber die Rückkehr in die Heimat ist für viele nicht leicht. Mara Ruse kennt das nur zu gut. Sie ist 29. Auch sie hat mehrere Jahre in Großbritannien gelebt. Jetzt organisiert sie in einer Kneipe Treffen für die Rückkehrer. Häufig geht es dann um ganz praktische Dinge: Wohnungssuche, Kindergartenplätze, die richtige Schule. "Einfach jemanden Fragen zu können, der sich auskennt. Das ist viel besser als im Internet zu suchen oder sich durch das Gesetz zu arbeiten. Diese Events zum Vernetzen waren und sind wichtig für die Leute, um an die Informationen zu kommen, aber auch neue Kontakte zu knüpfen und neue Freundschaften zu schließen", sagt Mara. Sie hat mit anderen Rückkehrern einen Verein gegründet: "Mit Welterfahrung in Lettland". Und sie ist sich sicher: Das Brexit-Chaos wird noch für mehr Rückkehrer sorgen: "Das Gefühl der Unsicherheit bleibt bei vielen Letten in Großbritannien, vielleicht nicht so sehr, was ihre eigene Situation angeht – aber was ist mit ihren Kindern? Was passiert mit der nächsten Generation? Das sind alles noch offene Fragen. Die Leute machen sich weiter Gedanken und Sorgen. Und da ist es wahrscheinlicher, dass sie eher den Schritt zurück machen als dass sie bleiben."
Autor: Christian Stichler, ARD Studio Stockholm
Stand: 23.07.2019 14:10 Uhr
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