So., 19.01.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Nordirland: Die "Neue IRA" in Derry
Der Brexit steht vor der Tür und noch weiß niemand wirklich, was das für Nordirland bedeuten wird. Aber die Iren beiderseits der Grenze sind besorgt. Splittergruppen wie die militante NEW IRA sind bereit, den alten Bürgerkrieg wieder zu entfachen – sollte es wegen des Brexits wieder eine Grenze zwischen Irland und Nordirland geben.
Die alten Geister wurden nie wirklich vertrieben in Derry. Der Frieden ist hier nie angekommen. Im April vergangenen Jahres verblutet die 29 Jahre alte Journalistin Lyra McKee an einem Kopfschuss, nach einer Polizeirazzia. Sie stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus.
Elaine stand nicht weit entfernt, als vermummte Jugendliche aus dem Viertel die Polizei angriffen - Teil ihres Kampfs, die Briten aus Nordirland zu verjagen. "Ich hab die Schüsse gehört und bin schnell wieder ins Haus. Ich bin dann wieder hin als ich die Feuerwehr gehört habe und habe gedacht: 'Nicht schon wieder. Niemand braucht das.' Das Mädchen war doch unschuldig und jemand muss doch für ihren Mord verhaftet werden."
NEW IRA beherrscht Derrys Stadtteil Creagan
Es geschah im April vergangenen Jahres. Die britische Polizei stürmte den Creagan, einen katholischen Stadtteil Derrys, da sie Hinweise auf ein Waffenlager der NEW IRA hatte. Eine Razzia, die wie hier so oft in gewalttätigen Auseinandersetzungen endet. Lyra McKee steht als Beobachterin neben einem Polizeiauto, als sie von einer Kugel getroffen wird. Die Polizei veröffentlicht später ein Video von dem Täter. Der hinter einer Ecke versteckt gezielt in Richtung Polizei schießt.
Aber bis heute wurde niemand festgenommen. Denn niemand hier spricht, aus Angst vor der New IRA, die diesen Teil Derrys fest im Griff hat. Die britische Polizei ist hier noch immer der Gegner, die Besatzungsgmacht, der Feind. Hier werden als Vermittler allenfalls Männer wie John Conelly akzeptiert, der selbst lange gegen die Briten gekämpft hat, und jetzt aber für den Frieden wirbt: Er hält die Polizei für mit Schuld daran, dass keine Ruhe einkehrt: "Wenn sie mit gepanzerten Wagen hier reinstürmen und mit Bolzenschneidern die Haustüren aufreißen. Und sie das auch noch genau machen, wenn die Schule zu Ende ist, und Hunderte Kindern das mitansehen, dann müssen sie sich nicht wundern, dass sie hier verhasst sind. Das macht die NEW IRA erst stark. Sie schießen mit Kanonen auf Spatzen."
Kampf für ein vereinigtes Irland
In seinem Boxclub versucht er aber auch, den Opfern der New IRA zu helfen. Kevin zum Beispiel, der von ihnen attackiert und zusammengeschlagen wurde, weil er Autos aufgebrochen hatte. Denn ohne die Erlaubnis der NEW IRA geht hier nichts. Sie sind die eigentliche Polizei hier.Es war eine Strafaktion. Ich habe seitdem neun Metallteile in meinem Schädel. Weil ich das auf eigene Faust gemacht habe“, sagt Kevin.
Wie bei der Mafia, sagen hier viele. Nach der ersten Attacke erhält Kevin eine zweite Warnung, sich aus in ihrem Revier herauszuhalten. Er bekommt einen Anruf, zu einem bestimmten Parkplatz zu kommen, wo ein Jeep auf ihn wartet. "Sie fragten, was ich hier verloren hätte, und dass – wenn mein Name noch einmal auf ihrer Liste auftaucht – ich dann einen 'Termin' bekäme. Und sie mich erschießen würden", erzählt Kevin. Das Wort NEW IRA nimmt er vor der Kamera nicht in den Mund, wie die meisten hier. Ob er weiß, wer Lyra McKee damals erschossen hat? "Natürlich, weiß hier jeder, wer das getan hat. Aber jeder hat Angst hier. Wenn Du deinen Mund aufmachst, hast Du eine rote Flagge am Kopf. Du bist ein Verräter. Und das hat Konsequenzen, harte Konsequenzen."
Warnungen an potenzielle Verräter prangen auch an der Zentrale von Sioardah, einer Gruppe, die die Ziele der NEW IRA teilt, auch wenn sie nicht offen für den bewaffneten Kampf eintritt. Paddy Gallagher, ist ihr Sprecher in Derry. Den Tod Lyra McKees bedauert er: "Jeder zivile Verlust ist eine Tragödie. Der Kampf für ein vereinigtes Irland aber geht vor. Paddy Gallagher kennt kein wichtigeres Ziel, da ist er kompromisslos, manche hier sagen radikalisiert: "Solange die Briten uns hier besetzen, wird es immer Leute geben da draußen, die willens und in der Lage sind, bewaffneten Widerstand zu leisten. Es ist ein verbreiteter Irrglaube, zu denken, hier hätte es jemals Frieden gegeben."
Brexit könnte Flächenbrand auslösen
Der Brexit kam ihnen hier mehr als gelegen. Eine mögliche Grenze in Irland wäre ein neue Front, die sie angreifen könnten. John Donelly in seinem Boxclub macht das Sorgen, denn mit einer solchen Grenze könnten die jetzigen Krawalle mit der Polizei leicht zu einem Flächenbrand werden: "Die Briten haben mit ihrem Brexit einfach nicht wirklich nachgedacht, wie es hier ist. Wenn die über Zäune und Wachtürme reden, was immer da dann steht, da musst du kein Genie sein, um zu wissen dass das hier willkommene Zielscheiben werden."
Noch ist nicht klar, wie und wo eine Grenze nach dem Brexit verlaufen würde. Die Menschen in Derry aber wissen, was das für sie bedeuten könnte: Ein normales Leben, ein echter Frieden dürfte wieder weiter in die Ferne rücken.
Autorin: Annette Dittert, ARD Studio London
Stand: 23.01.2020 17:32 Uhr
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