So., 08.12.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Georgien: "Wir kämpfen um unsere Zukunft"
Auf dem Weg zum Protest: Sie nehmen diesen versteckten Hintereingang, um zu den Demonstrationen zu kommen. Otari und sein Freund Nika gehen diesen Weg nun schon seit mehr als zehn Tagen. Eigentlich ist Otari Kirakozashvili Opernsänger. Aber seit den Protesten hat er eine andere Mission: Er will alles dokumentieren, was auf diesen Anti-Regierungs-Demos passiert, auch, wie die Sicherheitskräfte hier gegen die Menschen vorgehen, später in der Nacht.
Enkel und Großeltern stehen hier, Mütter mit ihren Kindern. Jetzt am Abend protestieren hier alle erst einmal friedlich: Sie fordern Neuwahlen. Ihr Ziel: Georgien soll Teil der EU werden. Und trotzdem protestieren sie weiter: Abend für Abend, vor dem Parlament in der Hauptstadt Tiflis Tausende Menschen, weil ihre Regierung die Beitrittsgespräche mit der EU für vier Jahre auf Eis gelegt hat.
Und darauf bereiten sie sich nun vor: Statt Waffen tragen sie Taucherbrillen und Gasmasken, um sich vor dem Tränengas zu schützen. Denn sie wissen nicht, was heute Nacht noch auf sie zukommt.
Stadt – Land
Nur zwei Stunden Fahrt raus aus der Hauptstadt und von den Krawallen im Zentrum ist gar nichts mehr zu spüren. Nicht weit von hier sind russische Truppen stationiert. Ein Markt in der Kleinstadt Gori. Die Proteste in Tiflis scheinen weit weg. Statt junger Leute sind hier vor allem Rentner an den Ständen, die noch Geld dazu verdienen müssen. Auch hier sind die Proteste Thema. Aber kaum jemand will darüber vor der Kamera sprechen. Die Meinungen gehen weit auseinander.
Marina Meskhi verurteilt die Gewalt, sie hat Bilder im Fernsehen gesehen. Sie will, wie rund 80 Prozent der Menschen im Land, dass Georgien Teil der EU wird: "Wenn ich jünger wäre, ich würde nach Tiflis gehen, um die Demonstranten zu unterstützen. Ich würde Seite an Seite mit diesen Kämpfern stehen."
Die meisten Menschen in der Region rund um Gori leben von der Landwirtschaft. Viele Früchte, die nicht auf dem georgischen Markt landen, werden nach Russland exportiert. So macht es auch Zakaria Mazmishvili. Er besitzt rund 30 Hektar Land und erntet vor allem Äpfel. Russland, so sagt er, sei seit Jahrzehnten der einzige Exportmarkt für ihn: "Ich kenne mich mit dem Markt gut aus. Wenn die Situation mit Russland stabil ist, produzieren wir mehr Früchte. Wenn nicht, dann kollabiert unser Geschäft."
Geschäft sei Geschäft und Politik Politik, sagt Zakaria Mazmishvili. Er ist gegen die aktuellen Proteste. Das seien Kinder, gesponsert von der EU. Und die wolle Georgien erpressen.
Eskalation durch Regierung
Auch die Regierung spricht von Erpressung von Seiten der EU. Der Premierminister geht sogar noch einen Schritt weiter: Sein Land wolle sich nicht dem „liberalen Faschismus“ beugen. Liberaler Faschismus. Auf ARD-Nachfrage antwortet er auf Deutsch ausweichend: "So viel Aggression gab es in der georgischen Gesellschaft nie. Das alles wird mit der ausländischen Finanzierung in Georgien künstlich produziert."
Aggression von außen finanziert? Näher will der Regierungschef darauf nicht mehr eingehen. Dabei veranlasste er selbst Verhaftungen in den letzten Tagen, gegen Oppositionspolitiker, auch mit Gewalt.
Hunderte Demonstrierende lassen sich von der Gewalt nicht abschrecken. Auch Otar ist mit seinem Freund bis spät in der Nacht dabei: er will weitermachen, aufgeben kommt für ihn nicht infrage, aber auch die Regierung will keinen Zentimeter zurückweichen.
Silke Diettrich und Tobias Dammers, ARD Moskau
Stand: 08.12.2024 19:33 Uhr
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