So., 24.11.13 | 19:20 Uhr
Das Erste
China: Lebensgefährlich - Klassenmedizin im Kommunismus
Hausbesuch in einem kleinen Dorf in der Provinz Hunan. Seit 36 Jahren versorgt Li Juying hier die Kranken. Sie ist keine studierte Ärztin, aber gelernte Krankenschwester. Auf dem Land deckt die Krankenversicherung nur 40 oder 50 Prozent der Ausgaben. Die Bauern müssen in Vorleistung treten, deshalb gehen sie nur selten zum Arzt und erst recht nicht ins Krankenhaus.
Bauer Ye Keyun ist 63 Jahre alt und leidet an vielen Krankheiten: Schwaches Herz, Nierensteine, Leistenbruch, Protastabeschwerden. "Es sind einfach zu viele Krankheiten. Wenn er eine Erkältung bekommt, wächst die sich sofort aus zu etwas Schlimmerem und er kann nicht mehr vernünftig atmen. Ich spritze ihm dann Penicillin", sagt Li Juying. Das ist nicht so teuer und Krankenschwester Li nimmt nur wenig. Offiziell ist sie pensioniert - dies sind Freundschaftsbesuche.
Leben von Almosen des Staates
"Ich würde gerne ins Krankenhaus gehen, aber das Geld haben wir nicht. Unsere alte Ärztin hat mir erklärt, wo ich Kräuter und Wurzeln finde. Die helfen auch", sagt der Bauer. Bauer Ye und seine Frau sind kinderlos. Das heißt: Niemand kann ihnen Geld aus der Stadt schicken. Sie leben von ein paar Staatsalmosen. Beide zusammen erhalten nicht einmal 50 Euro im Monat. Bauer Ye ist zu schwach, um sein Feld zu bestellen. Er füttert die Hühner. Sein Stück Land bewirtschaften Nachbarn und geben im Austausch ein bisschen Reis.
Ein paar Häuser weiter gibt es chinesische Medizin gegen Krebs. Chen Ziliang ist erst 39 Jahre alt. Er hat als Programmierer gearbeitet - bis er die Schmerzen nicht mehr aushielt. Jetzt helfen ihm Morphium und Rückenmassage. Er hat Bauchspeicheldrüsenkrebs, die Ärzte im Krankenhaus haben eine Operation empfohlen und Chemotherapie. Doch das würde umgerechnet mehrere Tausend Euro kosten. "So viel Geld habe ich nicht. Meine Schwestern wollten, dass ich im Krankenhaus bleibe, aber es ist zu schwierig an so viel Geld zu kommen - und dann gibt man es in ein paar Tagen im Krankenhaus wieder aus", sagt Chen Ziliang.
Der Patient ahnt, dass er nicht mehr lange leben wird, seinen Vater und seine kranke Mutter zurücklassen muss. Und dann ist da noch sein neunjähriger Sohn.
Stadtbewohner sind priviligiert
Ortwechsel: Weihai, eine 600.000 Einwohner-Stadt am Gelben Meer, ist keine berühmte Metropole und für chinesische Maßstäbe ein kleines Nest. Das städtische Krankenhaus ist aber gut ausgestattet und modern. Die Stadtbewohner Chinas sind privilegiert, im Gegensatz zu den Bauern haben sie eine angemessene Krankenversicherung.
In der Anmeldehalle beginnt jeder Krankenhausbesuch. Niedergelassene Ärzte gibt es nicht in China, nur Kliniken verschiedener Größen. Jeder Facharzt hat sein eigenes Untersuchungszimmer. Vorsorgeuntersuchungen, Operationen, Medikamente - für die Städter zahlen den Großteil Staat und Arbeitgeber.
Angst vor Krankheiten und den Behandlungskosten
Song Lili verdient ihr Geld bei einem Personaldienstleister. Sie hat Beschwerden mit den Lymphknoten, Vielleicht ist es die Schilddrüse? Die Krankenvorgeschichte findet die Ärztin im Computer. Eine Ultraschalluntersuchung ist nicht notwendig, befindet sie und schickt Song Lili zum Bezahlen. 100 Euro im Jahr Gesundheitsguthaben sind auf ihrer Karte - zwölf Euro werden heute für den Arztbesuch abgezogen.
Zu Hause warten ihre Tochter, ihr Mann und die Schwiegereltern. Sie leben zu fünft in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. Gesundheit spielt eine große Rolle, aber auch die Sorge, dass eine schwere Krankheit die Ersparnisse der Familie verschlingen könnte, denn für importierte Medikamente oder eine Computertomografie etwa zahlt die staatliche Versicherung nicht. Song Lili hat auch dafür vorgesorgt. "Ich glaube, es sind mehr als 10.000 Euro, die mir meine Privatversicherung bezahlt - für komplizierte Behandlungen und teure Medikamente. Ich habe zwei Versicherungen, die staatliche und meine private."
"Wir Bauern können uns Krankheiten nicht leisten"
Davon können die vielen Hundert Millionen Bauern Chinas nur träumen. Krankenschwester Li versorgt den alten Liu. Er hatte vor vier Jahren einen Schlaganfall, ist seitdem pflegebedürftig. Auch hier hat die Familie bereits ihre gesamten Ersparnisse in die medizinische Versorgung gesteckt, bis sie die Krankenhauskosten nicht mehr bezahlen konnten. Da haben sie den 72-Jährigen wieder nach Hause geholt. "Ich hoffe, dass auch wir eines Tages weniger zahlen müssen für ärztliche Behandlungen. Wir Bauern können uns Krankheiten doch einfach nicht leisten", sagt Lio Wenbin.
Die Zweiklassengesellschaft Chinas - selten tritt die Ungerechtigkeit so deutlich hervor wie beim Gesundheitssystem. Eine Reform wäre zu teuer. Und so bleibt den Bauern nur das Prinzip Hoffnung, dass sie von Krankheiten verschont bleiben.
Autorin: Ariane Reimers, ARD-Studio Peking
Stand: 15.04.2014 10:38 Uhr
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