So., 06.04.25 | 23:05 Uhr
Das Erste
Literatur-Star Rachel Kushners neuer Roman „See der Schöpfung“
Ein Pageturner mit Undercover-Agentin
Rachel Kushners neuer „Wild Ride“
Ihr Deckname ist Sadie Smith. Die Agentin wurde von der CIA gefeuert. Jetzt nimmt sie für Geld jeden Undercover-Einsatz an. Ihr neuer Auftrag: Irgendwo in Frankreich eine Gruppe von Umweltaktivisten infiltrieren. Für Sadie: auch nur ein Job.
„Sie ist eine durchaus skrupellose Person. Sie fährt aufs Land in Südwestfrankreich, um das Leben von Menschen zu zerstören, die dort ein soziales Projekt begonnen und eine Kommune gegründet haben. Das Ziel ist, diese Kommune zu vernichten,“ sagt Rachel Kushner.
Sadie weiß nicht, wer ihre Auftraggeber sind. Was sie aber weiß: Sie verdächtigen die Kommune und ihren Anführer Pascal, eine Sabotageaktion durchgeführt zu haben, um den Bau von Megabassins zu verhindern: gigantische Wasserreservoirs der industriellen Landwirtschaft, die der Region das Grundwasser entziehen.
Soweit die Ausgangslage von „See der Schöpfung“: Rachel Kushners neuer „Wild Ride“! Ein Spionage-Roman – spannend, voller aktueller Bezüge und genial erzählt. Nominiert unter anderem für den Booker Prize.
Verteilungskampf ums Wasser
Die amerikanische Starautorin Rachel Kushner lebt in Los Angeles. Sechs Jahre hat sie an ihrem neuen Buch geschrieben. Sie kennt den Südwesten Frankreichs gut und den Verteilungskampf ums Wasser, der dort seit einigen Jahren herrscht.
„Gerade als ich den Roman fertig hatte, wurde das zu einem Riesenthema in Frankreich – und jetzt gibt es eine Massenbewegung: Junge Aktivisten und Kleinbauern versuchen gemeinsam zu verhindern, dass die französische Regierung und die Agrarlobby die Kontrolle über das Wasser übernehmen,“ erzählt Rachel Kushner.
Die Proteste gegen die Megabassins enden immer wieder in Gewalt. Im Roman ist es Sadies Job, für eine Eskalation zu sorgen. Damit die Aktivisten möglichst lange hinter Gittern landen.
„Wer auch immer Sadie engagiert hat, hat entschieden, dass diese Leute auf dem Land eine ernsthafte Bedrohung für dieses Projekt der Agrarindustrie sind“, so Kushner. „Aber es ist Teil der Erzählung, dass wir nicht wissen, ob sie wirklich eine staatsgefährdende Aktion planen. Vielleicht tun sie das ja…“
Menschen, die gegen unsere Zeit leben, anstatt sich ihr anzupassen
Doch statt Militanz begegnet Sadie in der Kommune zunächst vor allem: Menschen, die viel Zeit damit verbringen, über Alternativen zum Leben im Spätkapitalismus nachzudenken.
„Die Leute, die diese Kommune gegründet haben, versuchen, die Bedingungen des modernen Lebens neu zu gestalten. Sie wollen eine natürlichere Art zu leben entwickeln, Nahrung anbauen, im Einklang mit den Jahreszeiten leben, die Zwänge des Stadtlebens hinter sich lassen und ein Leben haben, das weniger entfremdet ist. In dem die Arbeit eines jeden am tatsächlichen Bedarf ausgerichtet ist“, sagt Rachel Kushner.
Menschen, die gegen unsere Zeit leben, anstatt sich ihr anzupassen – immer wieder widmet sich Kushner in ihrem Schreiben, den Rebellen und Bohemiens: denen, die frei und gefährlich leben.
Eine Gegengeschichte der Menschheit
Sadies Gegenpart im Roman ist Bruno, der weltabgewandt in einer Höhle in völliger Dunkelheit lebt. Er ist der Vordenker der Kommunarden. Der Sieg des Kapitalismus nach der gescheiterten 68er-Bewegung hat ihn desillusioniert. Nur hin und wieder klettert er zurück in die Welt, teilt seine Gedanken über den Menschen, die Natur oder die Kunst mit den Aktivisten … per E-Mail. Sadie fängt seine Mails ab, um herauszufinden, was die Gruppe plant.
„Bruno hat verstanden, dass der Kapitalismus gekommen ist, um zu bleiben“, erklärt Rachel Kushner. „Für ihn ist das eine verheerende Botschaft. Er sagt den Kommunarden, dass man sich in die tiefe Vergangenheit begeben sollte, um zu sehen, ob in früheren Epochen andere Lösungen zu finden sind.“
Um den Pfad der Zerstörung zu verlassen, glaubt Bruno, brauche es eine Revolution des menschlichen Bewusstseins. In seiner Höhle kommt er zu der Erkenntnis, der Homo Sapiens sei die Wurzel allen Übels. Der Neandertaler hingegen sei der eigentliche Held der Zivilisationsgeschichte – ein „echter Künstler“ und zur Kooperation imstande.
„Bruno sagt, wir sind vor 35.000 Jahren falsch abgebogen. Als der Homo Sapiens über Europa hinwegtrampelte und das viel schönere, zärtlichere und bescheidenere Leben des Neandertalers zertrat. Das ist wahrscheinlich eine grobe Vereinfachung. Wir wissen nicht, was damals geschah“, so die Schriftstellerin.
Der funkelnde, führerlose Wagen als Metapher für die Bruchstellen der Gegenwart
Dennoch werfen Brunos mystische Texte ernsthafte, zutiefst existenzielle Fragen auf. Rachel Kushner schafft in „See der Schöpfung“ eine Gegengeschichte der Menschheit: flirrend, mit einem präzisen Gespür für die Bruchlinien der Gegenwart. In den USA wird ihr Roman gerade von der politischen Realität eingeholt.
„Wenn Bruno sagt, wir befinden uns auf dem Weg Richtung Auslöschung in einem funkelnden, führerlosen Wagen – dann ist das jetzt wohl noch wahrer“, so Kushner. „Ich habe leider erwartet, dass Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass er und Elon Musk die Regierung gemeinsam übernehmen würden und den führerlosen Wagen in Richtung Auslöschung noch weiter beschleunigen, indem sie alle ökologischen Regulierungen lösen. So nach der Devise: Ab geht’s, wir geben jetzt einfach Vollgas.“
Wie Aussteigen aus dem führerlosen Wagen?, fragt Bruno. In „See der Schöpfung“ liegt, zwischen den Zeilen, ein Gedanke, der uns bei der Suche nach einer Antwort helfen könnte: Der Mensch, der imstande war, den selbstmörderischen Wagen zu bauen – es ist derselbe Mensch, der seit jeher zu noch viel Größerem fähig ist: zu Gemeinschaft, Kunst und zu funkensprühender Vorstellungskraft, selbst in völliger Dunkelheit.
Autorin: Jella Mehringer
Rachel Kushner: „See der Schöpfung“, Rowohlt Buchverlag, 480 Seiten, 26 Euro, Erscheinungstermin: 15. April 2025.
Stand: 06.04.2025 18:43 Uhr
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