So., 18.07.10 | 17:03 Uhr
Das Erste
Wenn Schlangen Alarm schlagen
12. Mai 2008. In der Provinz Sichuan, im Herzen Chinas, bebt die Erde mit einer Stärke von 7,8 auf der Richterskala. Ein Beben mit verheerendem Ausmaß: Ganze Stadtteile und Dörfer werden zu Schutthaufen gerüttelt, etwa 80.000 Menschen sterben, fünf Millionen werden obdachlos. Drei Minuten hat das Beben nur gedauert. Drei Minuten, die das Leben Zehntausender ganz schlagartig verändern.
Zwar ist es für Geologen nicht überraschend, dass es dort zu einem Erdbeben kam. Die Region liegt in einem Gebiet, in dem sich zwei Erdplatten ineinander schieben. Dabei entstehen Spannungen in der Erdkruste, die sich in großen Zeitabständen mit einem Ruck entladen. Wann genau solch ein Ruck in der Stauchungszone passiert und wie stark er sein wird, weiß leider niemand. Erdbeben lassen sich nicht vorhersagen. Oder vielleicht doch?
Selbstmord im Schlangengehege
1.500 Kilometer weiter südlich, unweit der Stadt Nanning, machen Schlangenzüchter 2005 eine seltsame Beobachtung. Ihre Tiere wollen mit aller Gewalt aus den Gehegen ausbrechen. Wie besessen schlagen sie ihre Köpfe gegen die hohen Betonwände. So lange, bis sie an ihren Verletzungen sterben. Vier Tage später passiert 100 Kilometer entfernt ein Erdbeben der Stärke 5,2 auf der Richterskala. Seitdem sind sich die Wissenschaftler um Jiang Weisong vom staatlichen Erdbebenbüro in Nanning sicher: Die Tiere können Vorzeichen eines Erdbebens spüren. Mit ihrem Innenohr nehmen Schlangen nämlich selbst geringste Erschütterungen wahr. Gemeinsam mit den Züchtern richten die Forscher Webcams auf den Farmen ein. Sie wollen das Verhalten der Schlangen rund um die Uhr beobachten und hoffen, das nächste Mal rechtzeitig alarmiert zu sein.
Der sechste Sinn
Aber nicht nur Schlangen schlagen vor Erdplattenverschiebungen Alarm. Schon in der Schule lernen Kinder in Reimen, dass Hühner vor einem Erdbeben mitten in der Nacht aus ihren Ställen ausbrechen, Vögel ihre Nester im Stich lassen oder Schweine ganz fremdartig quieken. Und auch unter Wasser können Tiere die Vorzeichen spüren. Das Aquarium von Nanning ist eine weitere Beobachtungsstation der Erdbebenforscher. Hier gibt es Schildkröten, Störe und Haie. Sie sind lebende Urtiere, also Arten, die seit mehreren Millionen Jahren auf der Erde leben und sich kaum verändert haben. Dadurch lassen sie sich nicht so leicht von äußeren Einflüssen aus der Ruhe bringen. Fingen die Haie an, gegen die Wände zu stoßen und die Störe aus dem Wasser sprängen oder sich sonst irgendwie ungewöhnlich verhielten, würden die Forscher aus Nanning aufmerksam werden. Sie sammeln die vielen Daten von Kameras, Tierpflegern und aus der Bevölkerung und werten sie ständig aus.
Die Erfolgsgeschichte von Haicheng
Ein schweres Beben mit Hilfe von Tieren vorherzusagen, ist den Chinesen bereits im Februar 1975 gelungen. In Haicheng, im Nordosten Chinas, beunruhigen leichte Vorbeben und plötzliche Änderungen des Grundwasserspiegels die Behörden. Die Bewohner werden daraufhin aufgefordert, wachsam zu sein. Sie melden die sonderbarsten Vorfälle. Trotz Schnee und Eis kommen Fische in Massen an die Wasseroberfläche. Schlangen verlassen mitten im Winter ihre Erdlöcher, was sie bei Minusgraden sonst nie tun. Qualvoll erfrieren sie auf der Schneedecke. Durch die vielen Hinweise veranlassen die Behörden die Evakuierung der Stadt. Eine Million Menschen werden in Sicherheit gebracht. Nur kurze Zeit später legt ein Erdbeben der Stärke 7,3 die Stadt in Trümmer. Kaum ein Stein bleibt auf dem anderen. Schätzungen zufolge hätte die Zahl der Verletzten und Toten ohne Evakuierung bei über 150.000 gelegen. In der Geschichte bleibt die erfolgreiche Vorhersage ein einmaliges Ereignis.
Tiere für die Erdbebenvorhersage?
Etabliert ist diese Vorhersagemethode noch lange nicht. Die Wissenschaftler in Nanning verwenden wie in allen Erdbebenstationen auch Seismographen, um kleinste Erdbewegungen aufzuspüren. Kritiker bezweifeln die Zuverlässigkeit einer Vorhersage durch Tiere und führen deren Verhalten auf Zufälle oder Falschaussagen zurück. Jiang Weisong dagegen ist sich sicher, dass es nichts vergleichbar Wertvolles gibt, wie die Beobachtung von Schlangen.
Glossar
Richterskala
Mit der internationalen Richterskala des US-Amerikaners Charles Richter kann die Stärke eines Erdbebens mit Hilfe von Instrumenten einheitlich bestimmt werden. Der angegebene Wert gilt dabei als Maß für die Bodenbewegung im Ausgangspunkt des Bebens. Ein Punkt mehr auf der Skala bedeutet die 32-fache Energiefreisetzung. So wird ein Beben der Stärke 2,0 auf der Richterskala vom Menschen kaum bemerkt. Eines der Stärke 4,0 bringt nur das Geschirr im Schrank zum klappern aber eines der Stärke 6 bis 7 kann Gebäude zum Einsturz bringen.
Eurasische Platte
Die Erdkruste besteht aus mehreren starren Platten, die auf flüssigem Erdmaterial unterhalb der Erdkruste „schwimmen“. Ströme sorgen dafür, dass diese Platten sich in eine bestimmte Richtung bewegen. Die Eurasische Platte ist eine der größten Kontinentalplatten und umfasst große Teile Europas und Asiens. Dort wo sich die afrikanische Platte in die Eurasische schiebt, haben sich die Alpen aufgefaltet.
Autor: Corinna Lücke (WDR)
Stand: 11.04.2013 15:43 Uhr