So., 20.11.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Der sechste Sinn der Kröten
Manche halten sie für die hässlichsten Tiere der Schöpfung: Kröten. Doch ihre warzige Haut verfügt über außergewöhnliche Fähigkeiten. Mit ihr können sie herannahende Gefahren spüren, die wir Menschen selbst mit modernster Technik nicht wahrnehmen. Das ist zumindest die Vermutung der Biologin Rachel Grant. Wie jedes Jahr fuhr die Krötenexpertin aus England auch 2009 an den Lago di San Ruffino in Italien, um das Paarungsverhalten von Erdkröten zu erforschen. Und kurz vor dem verheerenden Erdbeben, das die Stadt L'Aquila in Mittelitalien zerstörte, machte sie eine erstaunliche Beobachtung.
Das plötzliche Verschwinden
Nur im Frühling kommen die Kröten zur Paarung an den See. Den Rest des Jahres halten sie sich in den Bergen in der Umgebung auf. Bei Vollmond sind die Tiere am aktivsten. Doch eine Woche vor dem Erdbeben von L'Aquila ist plötzlich alles ganz anders: Als sich die Vollmondnacht nähert, zählt Rachel Grant nur noch zwei Kröten. Die Nacht zuvor waren es noch 96 gewesen. Mehrere Tage lang kann die Biologin gar keine mehr finden. Es ist ein Rätsel. Dann erschüttert fünf Tage nach dem spurlosen Verschwinden der Kröten ein starkes Erdbeben die 75 Kilometer entfernte Stadt L'Aquila. Rund 300 Menschen sterben unter den Trümmern. Hat das Verschwinden der Tiere eventuell mit dem Beben zu tun? Davon ist Rachel überzeugt. Sie sucht nach Ursachen für das seltsame Phänomen.
Der sechste Sinn der Kröten
Der erste Verdacht: Kröten sind bekannt dafür, dass sie empfindlich auf Wetterumschwünge reagieren. Doch eine Überprüfung der Aufzeichnungen von Rachel Grant ergibt: Temperatur und Luftdruck waren konstant.
Eine andere Spur erscheint plausibler: Kröten verfügen über Sinneszellen auf ihrer Haut, mit denen sie chemische Veränderungen erkennen. Sinkt oder steigt zum Beispiel der pH-Wert des Wassers, das sie umgibt, wirkt das auf die Amphibien lebensbedrohlich. Ihre Rezeptoren nehmen diese Schwankungen wahr und Warnsignale werden an das Gehirn weitergeleitet. Die Kröten ergreifen die Flucht. Aber wie kann ein Erdbeben den pH-Wert des Wassers beeinflussen?
Elektrische Ladung im Gestein
Friedemann Freund, ein Physiker der NASA, glaubt, auf ein Phänomen gestoßen zu sein, das vieles erklären könnte: Er misst Strom an einem ungewöhnlichen Ort, nämlich in Steinen.
In einem Versuch mit einer Presse stellt Dr. Freund die Situation zweier aufeinander drückenden Erdplatten nach und simuliert so die Kräfte, die bei einem Erdbeben wirken. Der elektrische Strom, der daraufhin durch die Steine fließt, könnte in der Natur zum Beispiel Ionen ins Wasser freisetzen. Als Freund in einem weiteren Experiment überprüft, wie der im Gestein erzeugte Strom auf Wasser wirkt, wird klar: Das Wasser verändert sich und der pH-Wert sinkt.
Hat die Erdbebenvorhersage eine neue Chance?
Rachel Grant plant, in Zukunft regelmäßig Wasserproben am Lago di San Ruffino zu nehmen. Nur so kann sie beim nächsten Erdbeben herausfinden, ob ihre These stimmt und der pH-Wert im See sich verändert. Sollte es ihr gelingen zu verstehen, worauf die Kröten genau regieren, könnten Erdbebenforscher entsprechende Detektoren entwickeln. Bisher haben sie vergeblich nach einer Möglichkeit für eine zuverlässige Erdbebenvorhersage gesucht. Das Verhalten der Kröten vom Lago di San Ruffino könnte dann ein Glücksfund sein - auf dem Weg, den sechsten Sinn der Tiere zu nutzen.
Autorin: Corinna Lücke (WDR)
Stand: 03.11.2015 09:51 Uhr